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Die Vereinigungskrise (31. Dezember 1992)

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Es wäre darüber zu diskutieren, was es heißt und heißen soll, dass wieder ein Staat aller Deutschen – samt vielen neu in die Staatsbürgerschaft Aufgenommenen – entsteht, in gebotener Offenheit gegen andere und als Teil Europas.

Es wird eine Verständigung über die Aufgaben anzustreben sein, die sich dem Land und seinen Bürgern jetzt und in absehbarer Zukunft stellen werden; wie zwischen Rechten und Pflichten ein neues Gleichgewicht herzustellen ist; und welches die Alternativen sind, wenn das nicht möglich oder nicht wünschbar ist.

Es wird bewusst zu machen sein, dass – da die Vereinigung, und sei es aus praktischen Gründen, endgültig ist – West- und Ostdeutsche sehr viel miteinander zu tun haben; dass sie nicht nur ein Volk, sondern auch eine Volkswirtschaft bilden und in engster politischer Verzahnung leben. So dass sie sich miteinander bekannt zu machen, viele Missverständnisse abzubauen, viele falsche Eigenschaften immer neu zu analysieren und eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Axiome zu entwickeln haben. Man wird zu lernen haben, dass die Gewinnung von Vertrauen zum vergrößerten Deutschland die Gewährung von Vertrauen vor allem vom überlegenen zum unterlegenen Teil des Landes und als dessen Folge dann die Entstehung von Vertrauen zwischen beiden Teilen voraussetzt. Der Schlüssel zur inneren Integration liegt gewiss weit eher im Westen als im Osten.

Man sollte sich nicht damit beruhigen, dass die Angleichung von Ost und West noch Jahrzehnte dauern wird, dass man sie der Zeit überlassen muss. Das muss nicht so sein. Und das darf nicht so sein, da in dieser Zeit zu viel passieren kann; da wir uns die momentane Rat- und Wehrlosigkeit nicht leisten können, in deren Zusammenhang die verschiedenen Missstände zu Symptomen einer Krise werden. Mangels Integration ist auch die Erzeugung von Toleranz, von Sicherheit etwa für jüdische Mitbürger (von den Fremden ganz zu schweigen) eine Aufgabe, die sich in Ost und West stellt.

Bonn ist nicht Weimar, hat man so gern festgestellt. Aber Bonn ist auch noch nicht Berlin. Es ist jedoch nur die Berliner, die gesamtdeutsche Demokratie, in der wir als leistungsfähige, freie, westliche Nation weiterleben können. Und die ist noch zu begründen. Innerhalb der Gesellschaft.

Nichts wäre unangebrachter, als das zu übersehen oder gar die Flinte ins Korn zu werfen. Immerhin müssten Demokratien die Möglichkeit haben, wenigstens dann Ungewöhnliches ins Werk zu setzen, wenn sie im Schlamassel schon drin sind.

Christian Meier ist Professor für Alte Geschichte an der Universität München.



Quelle: Christian Meier, „Nichts trennt die Menschen mehr als die Vereinigung“, Süddeutsche Zeitung, 31. Dezember 1992.

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