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Charles Krauthammer über internationale Ängste im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung (26. März 1990)

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Als ich letzten Oktober über eine Welt nach dem Kalten Krieg schrieb, erlaubte ich mir die Behauptung, dass neben den anderen großen Mächten „Europa“ Teil der neuen multipolaren Ordnung sein würde. Damals war es möglich, sich ein verbündetes Europa vorzustellen, welches aus den Strukturen der Europäischen Gemeinschaft hervorgehen würde. Diese Vorstellung ist nun schwieriger geworden. Nicht weil Deutschland politisch ein Feind Europas wäre, sondern weil die Wiedergeburt eines mächtigen deutschen Staates innerhalb Europas die Wiedergeburt nationaler Selbstbehauptung in ganz Europa provoziert. Dieses Klima macht es unmöglich, sich die Herausbildung eines „Europas“ vorzustellen. Auf dem Weg in die Multipolarität wird nun der Pol, der ehemals „Europa“ sein sollte, von Groß-Deutschland eingenommen. Es ist möglich, dass sich Deutschland doch noch zur Einordnung in Europa entschließt, aber im Taumel der ersten Unabhängigkeit seit dem (Kalten) Krieg ist das eher unwahrscheinlich.

Die Berliner Mauer ist zu früh gefallen. Wäre die DDR der letzte sowjetische Satellitenstaat gewesen, der zusammenbrach – wir dachten, dass der Kreml darauf bestehen würde – so hätte sie nur einen kleinen Teil dargestellt, der leicht von einem neuen und stabilen Europa hätte aufgenommen werden können. Durch die Schnelligkeit der Ereignisse jedoch droht die deutsche Wiedervereinigung das Ganze zu stören, indem im Herzen Europas ein Groß-Deutschland geschaffen wird, das Europa nicht in Schach halten kann.

Die Gefahr liegt nicht darin, dass Groß-Deutschland sich über Europa ausbreiten wird. Vielmehr verwandelt seine Geburt die Abenddämmerung der Souveränität in ein neues Morgengrauen. Die Wiedervereinigung lässt den Prozess entgleisen, mit dem sich Europa vor sich selbst schützen wollte. Stattdessen kommen wir wieder im alten Europa an, dem Europa des Gleichgewichts der Mächte, dem Europa, das mehr Geschichte produziert, als es konsumieren kann.



Quelle: Charles Krauthammer, „The German Revival“ [„Der Wiederaufstieg Deutschlands“], New Republic, 26. März 1990.

Translation: Jessica Csoma

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