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Charles Krauthammer über internationale Ängste im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung (26. März 1990)

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Diese Befürchtungen können nicht eindeutig widerlegt werden. Wie beweist man die Verneinung der These, dass die Deutschen nicht an einem besonderen Charakterdefekt leiden, der sie für Expansion und Aggression anfällig macht? Man kann lediglich sagen, dass die Heranziehung des Konzepts eines Nationalcharakters für Erklärungsversuche oder Vorhersagen immer mit Skepsis betrachtet werden sollte. Die psychologische Interpretation von Staaten ist noch unzuverlässiger als die psychologische Interpretation von Individuen, welche ja an sich schon ein bekanntermaßen unzuverlässiges Unternehmen ist. Wie wäre mit dieser Argumentationsweise die Tatsache zu erklären, dass die französische Vorliebe für romantische Expansionspolitik, die die Franzosen 1812 bis nach Moskau brachte, nur drei Jahre später abrupt endete?

Wir erklären es mit dem Sieg der Geschichte über „Charakter“. Wie Daniel Pipes sagt, gibt es kein besseres Heilmittel für totale Ambitionen als eine totale Niederlage. Vor dem deutschen Problem gab es das französische Problem. Waterloo war die Lösung. Wer hat jetzt noch Angst vor dem französischen Nationalcharakter? Natürlich kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass das deutsche Problem im Jahre 1945 so bestimmt gelöst wurde wie das französische Problem im Jahre 1815. Aber die letzten vierzig Jahre deutscher Geschichte können nicht einfach so abgetan werden. (Und Sicherheitsgarantien, so wie die weitere amerikanische Präsenz auf dem Kontinent, sollten ausreichende Zusicherungen bieten, bis das neue Deutschland bewiesen hat, dass es tatsächlich das Erbe der Bundesrepublik und nicht älterer, archaischer deutscher Staatsformen ist.)


II. WIRTSCHAFTLICH

Eine realistischere Sorge vor einem neuen Deutschland ist wirtschaftlicher und somit kultureller Art. Wie Rita Klimová, die neue tschechische Botschafterin in den USA, kürzlich bemerkte: „Die deutschsprachige Welt“ – mit der sie die beiden Teile Deutschlands und Österreich meinte – „wird nun erreichen, was die Habsburger, Bismarck und Hitler nicht erreicht haben: die Germanisierung Zentraleuropas“. Sie fügte hinzu: „Natürlich durch friedliche und löbliche Mittel. Und durch Handel, nicht Eroberung“. Es war jedoch klar, was sie meinte. Die Dynamik des deutschen Handelsverkehrs ist bereits jetzt in den schwachen Wirtschaften Osteuropas spürbar. Tschechische Schulen hätten gerade Russisch als zweite Sprache abgeschafft, erklärte Klimová. Jetzt bleibe nur noch abzuwarten, ob die neue zweite Sprache Englisch oder Deutsch sein werde. Sie drängte die USA, Englischlehrer zu entsenden.

Osteuropa befürchtet die unverblümte Vorherrschaft der deutschen [Wirtschafts-]Dynamik. Westeuropa – insbesondere Großbritannien und Frankreich – befürchtet, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Die deutsche Wirtschaft wird mit achtzig Millionen Menschen rund vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Gemeinschaft produzieren. Als das wirtschaftliche Kraftpaket des Kontinents wird Deutschland seinen Nachbarn noch stärker politische Richtlinien diktieren als es das heute bereits tut.

Man kann die Ursachen dieser Befürchtungen verstehen, ohne ihnen übermäßig Respekt zu zollen. Die Angst, unter fairen Wettbewerbsbedingungen von einer friedlichen Wirtschaft aus dem Feld geschlagen zu werden, ist eine Angst, auf die ein Staat nicht stolz sein sollte. So verhält es sich zum Beispiel mit der eher hysterischen und mitunter rassistischen amerikanischen Feindseligkeit gegenüber Japan. Eine deutsche wirtschaftliche Vorherrschaft über den Kontinent verletzt vielleicht den britischen und französischen Stolz. Und die Verbreitung von deutschen Automobil-Benutzerhandbüchern wird vielleicht von den Tschechen und Polen nicht gern gesehen. Aber weder die eine noch die andere Entwicklung bedeutet eine Gefahr für irgendeinen Lebensstandard (in Marktsystemen ist Wohlstand kein Nullsummenspiel), oder eine Bedrohung für irgendeine nationale Existenz, oder ein Argument gegen die deutsche Wiedervereinigung.

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