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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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So viel über das Spiel. Darf auch noch über das Stück selbst ein Wort gesagt werden? Es gibt schon eine ganze Ibsen-Literatur, und speziell der Inhalt der »Gespenster«, die darin veranschaulichte Lehre von der Heimsuchung der Sünden der Väter an ihren Kindern, diese These von der Erbkrankheit in ihren schrecklichsten Formen als beständige Begleiterin der Erbsünde, mußte notwendig einen heißen Streit entflammen. In diesen Streit aufs neue eintreten mag ich um so weniger, als ich nur wiederholen könnte, was ich schon gesagt habe. Wo wären wir, wenn das Gesetz von Anfang an gegolten hätte. Die Vereisung abzuwarten, wäre nicht nötig geworden, wir wären an »Versumpfung« längst zugrunde gegangen. Und wenn das Ibsensche Stück trotzdem auch gestern wieder eine große Wirkung geübt hat, so muß es an etwas anderem liegen. [ . . . ] Es wird jetzt im Streit mit der realistischen Schule so viel auf die Dichtungen einer voraufgegangenen Literaturepoche hingewiesen, auf eine Glanzzeit, die, während sie das Ideale betonte, Größeres zu schaffen und die Menschen ungleich glücklicher zu machen verstand. Es fragt sich, ob es wahr ist. Aber wenn wahr, ebenso wahr ist es, daß diese großen Schöpfungen, die selbst den Vertretern der entgegengesetzten Richtung nach wie vor als solche gelten, im wesentlichen aufgehört haben, die Menschheit, »die jetzt dran ist«, noch lebhaft zu interessieren. Die klassischen Aufführungen schaffen seit geraumer Zeit das Seitenstück zu den leeren Kirchen. Der Aufführungspomp ist ein trauriger Notbehelf. Und in dieser Not sprang der Realismus ins Dasein, der das Kunstheil auf dem entgegengesetzten Wege suchte. Wenn es das Paradies nicht mehr sein konnte, so sollt’ es dafür ein Garten des Lebens sein. Auf dem nach diesem Ziel hin eingeschlagenen Wege hat es für manchen ein Verweilen an Stellen gegeben, daran vorüberzugehen vielleicht besser gewesen wäre. Zuletzt aber, nach mancher Irrfahrt, wird auch auf diesem Wege, davon bin ich überzeugt, das Schöne gefunden werden, und wenn es gefunden ist, so wird es eine schärfere Darstellung finden als vordem, weil das Auge mittlerweile schärfer sehen lernte. [ . . . ]

Die nächste Aufführung (20. Oktober) wird Gerhart Hauptmanns soziales Drama »Vor Sonnenaufgang« bringen. Möge ein gleich guter Stern auch über der Aufführung dieses zweiten Stückes stehn, was der Fall sein wird, wenn Künstler und Theaterdirektoren fortfahren, die Sache der »Freien Bühne« wie bisher zu stützen. Es mag dies unter Umständen recht schwer sein, aber das ganz ungewöhnliche Interesse, womit das Publikum, und zwar ein Publikum, wie’s besser und verständnisvoller nicht gedacht werden kann, gestern der Aufführung folgte, muß auch für die das Unternehmen unterstützenden Herren ein Sporn sein, aller Schwierigkeiten mit Freuden Herr zu werden.

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