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SD-Bericht an die Parteikanzlei über „Grundfragen der Stimmung und Haltung des deutschen Volkes” (29. November 1943)

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Ein weiterer Anlaß zu Mißtrauensäußerungen gegen die Führung wird aus dem Verhalten einzelner örtlich führender Persönlichkeiten von Staat und Partei der Unter- und Mittelstufe genommen. Obwohl die Maßnahmen der Reichsregierung im Grundsätzlichen gebilligt werden, stimmen doch viele tägliche Wahrnehmungen die Volksgenossen gegenüber den durchführenden Organen von Staat und Partei bedenklich. So stelle die Bevölkerung z. B. fest, daß der Tausch- und Schleichhandel immer weiter um sich greife, oder daß der von der Führung propagierte totale Krieg nicht gerecht durchgeführt werde (so z. B. beim Frauenarbeitseinsatz, der Hausgehilfinnenfrage, der Wohnraumlenkung und vor allem bei den Uk-Stellungen) und daß ein Teil der führenden Persönlichkeiten aus Staat und Partei von den allen auferlegten Beschränkungen nicht voll getroffen werde. Der Beobachtung, daß führende Persönlichkeiten im Kriege landwirtschaftliche Grundstücke aufkaufen, oder trotz Mangels an Baumaterialien ihre Villen und Landsitze ausbauen könnten, sowie private Luftschutzbunker anlegten, schließlich auch die in einzelnen Fällen angeblich beobachtete Schonung straffällig gewordener Angehöriger der mittleren und höheren Führung durch Niederschlagung schwebender Gerichtsverfahren oder deren vielmonatige Verschleppung haben vielfach zu der Ansicht geführt, daß die Führungsschicht die Entbehrungen des Volkes nicht immer teile. Es werde „mit zweierlei Maß gemessen“ und wohl „Wasser gepredigt, aber Wein getrunken.“

Haltungsmängel einzelner maßgeblicher Personen des öffentlichen Lebens würden örtlich häufig auch das Vertrauen zur oberen Führung schädigen.

Das Vertrauensverhältnis der Arbeiterschaft zur Führung der Betriebe, zur DAF und anderen Organisationen und Behörden sei ebenfalls häufig besonders starken Spannungen ausgesetzt. Der Arbeiter beginne vielfach wieder in Klassen zu denken und spreche von Schichten und Ständen, die ihn „ausnutzen" würden.

Hinsichtlich der Wehrmacht sei die Bevölkerung von den sachlichen und persönlichen Qualitäten der deutschen militärischen Führung überzeugt. [ . . . ] Die Auswüchse des Etappenlebens und teilweise auch in den Heimatgarnisonen würden jedoch einer wachsenden Kritik unterzogen. Diese gipfele häufig in der Feststellung, daß die Zustände des ersten Weltkrieges durch die heutigen Verhältnisse noch übertroffen würden. Insbesondere werde auf die angebliche wachsende Kluft zwischen Offizieren und Mannschaften in den Heimat- und Etappentruppenteilen hingewiesen (Sonderverpflegung in den Kasinos, Verwendung von Spirituosen, Einkaufsfahrten in die besetzten Gebiete, unzweckmäßiger Einsatz von frontverwendungsfähigen Soldaten in Kasinos, Schreibstuben usw.).

Zusammenfassend ergibt sich aus den Meldungen folgendes:

1.) Die Bevölkerung mache in der Beurteilung der sachlichen Leistungen wie der persönlichen Haltung einen Unterschied zwischen dem Führer und der übrigen Führung.

2.) Die Kritik an einzelnen führenden Persönlichkeiten sowie an den von Führungsstellen angeordneten Maßnahmen, die in einzelnen Fällen nicht nur von Gegnern oder gewohnheitsmäßigen Schwätzern, sondern von weiten Bevölkerungskreisen ausgehe, läßt eine gewisse Rückläufigkeit des Vertrauens zur Führung erkennen.

3.) Gerechtigkeit und gleichmäßige Verteilung der Kriegslasten würden das Maß des Vertrauens zur Führung bestimmen. Das Vertrauen werde vor allem dann erschüttert, wenn Anordnungen nicht gleichmäßig oder total durchgeführt würden, wenn es Ausnahmen und „Hintertüren“ gebe und nicht ohne Rücksicht auf die Person konsequent durchgegriffen werde.



Quelle: Bericht an die Parteikanzlei vom 29. November 1943; abgedruckt in Heinz Boberach, Hg., Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945. Bd. 15, Herrsching: Pawlak, 1984, S. 6064-66.

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