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Helmuth James Graf von Moltkes Denkschrift an Hans Wilbrandt und Alexander Rüstow über die Zustände in Deutschland sowie den Warschauer Ghettoaufstand (9. Juli 1943)

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Anfang Mai wurden motorisierte Einheiten heran geführt, um den Widerstand im Ghetto niederzuschlagen. Ein regulärer Kampf begann, in dessen Verlauf die Angriffstruppen Gelegenheit hatten, sich davon zu überzeugen, dass die Juden mit den modernsten Waffen ausgerüstet waren, automatischen Waffen, Feldgeschütze, sogar Pak und Flak, und dass sie in wirklichen Bunkern eingegraben waren. Bis Mitte Mai desertierten einige hundert Offiziere und Mannschaften aus den Kompanien, die den Widerstand im Ghetto brechen sollten, oder wechselten mit ihren Waffen die Seite, um den Verteidigern zu helfen, bis am 16. Mai die regulären Kompanien zurückgezogen werden mussten und durch Waffen-SS ersetzt wurden. Ein erbitterter Kampf fand dann zwischen den Verteidigern und großen Abteilungen von SS-Truppen statt, in dessen Verlauf etliche tausend deutsche Offiziere und Mannschaften getötet oder verwundet wurden. Der Widerstand im Ghetto wurde beinahe völlig mit Panzern und Sturzkampfbombern gebrochen, und das Ghetto selbst beinahe dem Erdboden gleichgemacht. Nur ein paar tausend von etwas mehr als 30.000 internierten Juden haben, wie berichtet wird, überlebt; sie sind in neue Lager transferiert worden, wo sie wahrscheinlich bereits „liquidiert“ worden sind. Nur einige wenige Juden und eine kleine Anzahl verteidigender deutscher Soldaten sind angeblich erfolgreich durch die unterirdischen Gänge in die Stadt geflüchtet. Die umfassenden Untersuchungen, die von der Gestapo, dem SD (Sicherheitsdienst) und der SS (Schutzstaffel) begonnen wurden, haben den Nachweis erbracht, dass zusätzlich zu einigen hundert deutschen Deserteuren ungefähr 1200 – 1500 deutsche Offiziere und Mannschaften die Seite gewechselt und bei der Verteidigung des Ghettos geholfen hatten. Die Verteidigung wurde unter dem Kommando eines deutschen Obersten geführt, der Berichten zufolge in den letzten Tagen der Kämpfe fliehen konnte.

Die in dieser Sache eingeleiteten Verfahren sind streng geheim gehalten worden, und die Gestapo hat alles in ihrer Macht stehende getan, um ein Durchsickern der Neuigkeiten sogar zum OKW und zur Partei zu verhindern. Hunderte von Festnahmen, Deportationen und Hinrichtungen haben angeblich stattgefunden, um den Kreis der über die Vorkommnisse Informierten, auf die zuverlässigsten Mitglieder von Gestapo, SD, SS zu beschränken. Nach einem Geheimbericht des deutschen Sicherheitsdienstes ist das Motiv der deutschen Offiziere und Mannschaften für ihr Handeln gegen die „Liquidierung“ der im Ghetto Internierten die Weigerung gewesen, in irgendeiner Form weiter an der Verübung von Massakern und Gräueltaten beteiligt zu sein, aus ihrer Überzeugung heraus, dass es die Pflicht des deutschen Soldaten ist, das deutsche Volk gegen einen äußeren Feind zu verteidigen, wenn das Interesse des Staates es verlangt, aber nicht Beihilfe zu sinnlosen und unmenschlichen Grausamkeiten gegen unschuldige und hilflose Männer und Frauen zu leisten, auf Befehl einer Partei, die vorgibt, im Namen des deutschen Volkes zu handeln.

Die US-Kriegsanstrengungen.

Parteikreise erkennen immer noch einige Chancen auf eine erfolgreiche Beendigung des Krieges für Deutschland, wenn er in die Länge gezogen werden kann. In Verbindung damit wird argumentiert, dass die Zeit für Deutschland arbeitet; diese Überzeugung ist kürzlich durch den Eindruck unterstützt worden, dass Amerika Zeichen moralischer Zersetzung und Kriegsmüdigkeit aufweist, die, wie man spürt, zukünftig immer deutlicher werden, solange sich der Krieg hinzieht. Das Argument fundiert auf den langgezogenen und immer wiederkehrenden Streiks sowie auf Zeichen des Schwankens und Symptome für ein Wiederaufleben des Isolationismus, denen in einigen amerikanischen Zeitschriften eine öffentliche Plattform gegeben wird.

Es ist unverständlich, warum in britischen Radiosendungen unaufhörlich über die amerikanischen Arbeitskämpfe gesprochen wird. Die Wirkung dessen kann mit einigem Erkenntnisgewinn in der deutschen Presse studiert werden. Dort widmete man den Streiks eine besondere Kampagne, die die Schadenfreude darüber kundtat und ermutigende Schlussfolgerungen zog.

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