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Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

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»Aber der »Reichstag« ist das Kind des allgemeinen Stimmrechts. Das allgemeine Stimmrecht ist der Wille des Volkes, und als Demokratie müssen wir den Willen des Volkes, folglich den »Reichstag« achten.«

In diesem Raisonnement, das ziemlich gewöhnlich ist, begegnet uns jene unverständige Überschätzung des allgemeinen Stimmrechts, die, hauptsächlich auf Lassalle’s Autorität sich stützend, zu einem förmlichen Götzendienst geworden ist. Namentlich in Norddeutschland halten Viele das allgemeine Stimmrecht für die wundertätige Springwurzel, welche den »Enterbten« die Pforten der Staatsgewalt öffnet; sie leben in dem Wahne, sich mitten im Polizei- und Militärstaat an dem allgemeinen Stimmrecht, wie weiland Münchhausen an seinem Zopf, aus dem Sumpf des sozialen Elends herausheben zu können. Münchhausens Zopf sollte ihr Hinterhaupt schmücken.

Gewiß, das allgemeine Stimmrecht ist ein »heiliges Recht« des Volkes, eine Grundbedingung des demokratischen, des sozialdemokratischen Staates. Allein vereinzelt, losgetrennt von der staatsbürgerlichen Freiheit ohne Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht, unter der Herrschaft des Polizei- und Soldaten-Säbels – mit einem Wort: im absolutistischen Staate kann das allgemeine Wahlrecht nur Spiel- und Werkzeug des Absolutismus sein.

Als Bonaparte die Republik gemeuchelt hatte, proklamierte er das allgemeine Stimmrecht.

Als Graf Bismarck dem preußischen Junkerpartikularismus den Sieg verschafft, als er durch seine 1866er »Erfolge« das liberale Bürgertum in Preußen überwunden und Deutschland zerrissen hatte, tat er, was sein Vorbild 15 Jahre vorher getan, – er proklamierte das allgemeine Stimmrecht.

Bei beiden Gelegenheiten besiegelte die Proklamierung, die Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts den Triumph des Despotismus. Das allein müßte den naiven Schwärmern des Evangeliums vom allgemeinen Stimmrecht die Augen öffnen.

Auf die Motive Bonapartes einzugehen, ist hier nicht der Ort. Was den Grafen Bismarck anbelangt, so liegen seine Beweggründe klar zu Tage.

Das Dreiklassenwahlsystem, undemokratisch und antidemokratisch wie es ist, hat doch zugleich einen antifeudalen Charakter, weil es den Schwerpunkt der parlamentarischen Vertretung in die besitzenden Klassen verlegt, die, wenn auch stets bereit, mit dem Absolutismus Front zu machen gegen die Arbeiter, gegen die Demokratie, dennoch, mit Ausnahme der Großgrundbesitzer, Feinde des absolutistischen Staats, und bis zu einem gewissen Punkt »liberal« sind. Das liberale Abgeordnetenhaus, das Produkt des Dreiklassensystems war der Junkerregierung unbequem. Es galt ein Gegengewicht zu schaffen, und dies fand sich im allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht.

Wie Wenige sind in dem heutigen Polizeistaat, in dem Staat der geistigen und der militärischen Dressur geistig und materiell unabhängig? Macht doch die Bauernbevölkerung allein, die hier zu Land dem Wink der Behörden willenlos gehorcht und gehorchen muß, zwei volle Drittel der gesamten Einwohnerzahl aus.

Dies berechnete Graf Bismarck, und er verrechnete sich nicht. Durch das allgemeine Stimmrecht fegte er die Opposition der besitzenden Klassen aus dem Weg und erlangte eine fügsame Reichstagsmajorität, wie sie das Dreiklassenwahlsystem ihm nimmermehr gegeben hätte.

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