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Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

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»Aber«, meint der Eine oder Andre, »im Reichtstag haben wir die beste Gelegenheit, die Prinzipien der Sozialdemokratie zu entwickeln.« Gelegenheit dazu haben wir, allein sicherlich nicht die beste, nicht einmal eine gute.

Glauben Sie, daß der »Reichstag« seine Rednerbühne als Katheder gebrauchen läßt? Nehmen Sie an, ein Marx wollte den Abgeordneten eine Reihe theoretischer Vorträge halten, wie lange, wie oft würde man ihn anhören? Vielleicht Einmal aus Neugierde, aber dann nicht mehr.

An eine gesetzgeberische Einwirkung, wie gesagt, ist nicht zu denken; – welchen Zweck soll aber dann, um Himmels Willen, die Darlegung unserer Prinzipien im »Reichstag« haben? Etwa die Bekehrung der Mitglieder? Diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, wäre mehr als kindlich, wäre kindisch.

Eben so praktisch würde es sein, unsere Prinzipien den Meereswogen vorzuplaudern – und nicht so lächerlich. Die Braune und Konsorten wissen sehr gut, was wir wollen. Ihnen gegenüber, wie überhaupt den im Reichstag fast ausschließlich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber ist der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfelde zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage.

»Ja, an eine Einwirkung auf den »Reichstag« selbst denken wir auch nicht, was wir wollen, ist, daß die Tribüne des Reichstages dazu benutzt werde, um zu dem Volk da draußen zu reden.«

Recht schön. Auch ich habe die Tribüne des Reichstages seiner Zeit so benutzt, und werde sie seiner Zeit wieder so benutzen. Allein ist sie denn der geeignete Ort für theoretische Entwickelungen? Das Ablesen ist im »Reichstag« verboten, und Sie werden mir Alle zugeben, daß der geübteste Redner – vorausgesetzt, was im »Reichstag« nicht der Fall ist, man höre ihn ruhig an – nicht im Stande ist, eine wissenschaftliche Arbeit so vollendet aus dem Kopfe vortragen und den Stenographen zu diktieren, als er sie daheim an seinem Pulte schreiben kann.

»Aber im »Reichstag« kann er Manches aussprechen, was sonst verpönt ist.«

Das leugne ich. Ich kann im »Reichstag« Angriffe auf die jetzige politische Ordnung der Dinge machen, die in keiner anderen preußischen Versammlung straflos bleiben würden, doch in sozialer Beziehung, namentlich auf theoretischem Gebiete, gibt es nichts, was nicht anderwärts mit der nämlichen Straflosigkeit gesagt werden könnte. Und sollen wir denn auch den Kampf mit den Gesetzen fürchten? Tatsache ist, daß jeden Tag ungehindert in Preußen weit Revolutionäreres geschrieben und gesprochen wird, als sämtliche Reichstagsreden über die soziale Frage enthalten haben.

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