GHDI logo

Wilhelm Liebknecht zu den Parlamentswahlen als Mittel zur Agitation (31. Mai 1869)

Seite 2 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Ich komme nun zu der Frage: hat die Demokratie überhaupt zu dem »Reichstag« zu wählen? Ob wählen oder nicht wählen, ist bei allgemeinem Stimmrecht nur eine Frage der Nützlichkeit, nicht eine Prinzipienfrage. Wir haben ein Recht zu wählen – der Umstand, daß das Recht oktroyiert worden, beraubt uns nicht unseres natürlichen Rechts – und wenn wir einen Vorteil dabei sehen, so wählen wir. Von diesem Gesichtspunkt aus faßten wir in Sachsen bei Berufung des »Reichstags« die Sache auf. Ein Teil war aus Nützlichkeitsgründen gegen, ein anderer für das Wählen. Für das Nichtwählen wurde geltend gemacht, daß es dem Volk die Rechtlosigkeit klarer zum Bewußtsein bringen, für das Wählen, daß bei Enthaltung der Demokratie die Gegner in den alleinigen Besitz der Rednerbühne gelangen, allein das Wort haben würden, und so leichter das Rechtsgefühl des Volks verwirren könnten. Diese Erwägung schlug durch – man entschied für das Wählen. Meine persönliche Ansicht ging dahin, daß die von uns gewählten Vertreter mit einem Protest in den »Reichstag« eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen sollten, ohne jedoch ihr Mandat niederzulegen. Mit dieser Ansicht blieb ich in der Minorität; es wurde beschlossen, daß die Vertreter der Demokratie jede ihnen passend dünkende Gelegenheit benützen könnten, um im »Reichstag« ihren negierenden und protestierenden Standpunkt geltend zu machen, daß sie sich aber von den eigentlichen parlamentarischen Verhandlungen fern zu halten hätten, weil dies eine Anerkennung des Nordbunds und der Bismarck’schen Politik einschließt und das Volk nur über die Tatsache täuschen kann, daß der Kampf im »Reichstag« bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie ist. An dieser Richtschnur haben wir in der ersten und zweiten Session des »Reichstags« festgehalten. Bei Beratung der Gewerbeordnung, welche den Hauptgegenstand der gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln, heißt sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert; wer parlamentiert, paktiert. [ . . . ]

Wenn die Demokratie jetzt denselben Fehler begeht, wie vor 6 Jahren die Fortschrittspartei, dann wird die gleiche Ursache die gleiche Wirkung hervorbringen.

Doch auch ganz abgesehen von dem eigentlich politischen Standpunkt hat eine Beteiligung unsrer Partei an den Parlamentsdebatten nicht den mindesten praktischen Nutzen.

Daß bei der Zusammensetzung des »Reichstags« nicht daran zu denken ist, prinzipiell wichtige Anträge in unsrem Sinn durchzusetzen, das wird mir von vornherein zugestanden werden.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite