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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

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Wahrlich, da ist es eine Lust geworden, für öffentliche Interessen zu arbeiten. Bisher war es ein harter, trauriger Dienst, dem sich nur die Pflicht unterzog: jetzt lockt der schönste Lohn, und jetzt haben wir eigentlich nur eine Arbeit zu vollbringen, die, gewisse Vorurteile zu überwinden, gewisse Schwächen abzutun, welche sich uns in einer unglücklichen Vergangenheit angehängt haben. Sobald der deutsche Liberalismus für die großen Tatsachen, welche er anerkennt, mit voller Hingebung, unbeirrt durch untergeordnete Bedenken, eintritt, so kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß uns das nächste Jahrzehnt den deutschen Staat bringen wird, der für unsere Wissenschaft, Kunst, Moral ein ebenso zwingendes Bedürfnis geworden ist wie für unsere politische Entwicklung und nationale Machtstellung. Nur wir können diesen heilsamen Prozeß hemmen, nur wir könnten uns selber in das alte Elend zurückstoßen.

Indem ich diese Betrachtungen schließe, tritt mir von neuem das Bedenken entgegen, welches mich von der Arbeit so lange zurückhielt, über der Arbeit so oft meine Feder hemmte, das Bedenken, ob eine Selbstkritik, wie ich sie wage, nicht sich auf einen besseren persönlichen Beruf stützen sollte, als ich ihn für mich in Anspruch nehmen darf. Wahrlich, ich hätte gern darauf verzichtet, eine für meine Schultern vielleicht zu schwere Last auf mich zu nehmen. Da aber, obwohl die Zeit drängt, niemand Hand anlegte, glaubte ich, meiner gewissenhaften Überzeugung mehr gehorchen zu müssen als jeder persönlichen Rücksicht. Ich habe das Gefühl, eine schwere, undankbare, aber notwendige Pflicht erfüllt zu haben. Ich bin gefaßt darauf, von vielen getadelt, von manchen vielleicht heftig angegriffen zu werden; ich will die mit der Arbeit verbundenen Unannehmlichkeiten gern tragen, wenn sie nur dem Vaterland und der Partei, der sie gewidmet ist, einigen Nutzen bringt. Niemand, denke ich, wird mir die Einbildung zutrauen, als hätte ich mit meiner Erörterung den Gegenstand irgend erschöpft: ich wollte nichts als zur ernsten Selbstprüfung auffordern, eine Anregung geben zu einer Diskussion, die wir uns nicht schenken dürfen, und nichts würde mich mehr freuen, als wenn weitersehende Männer eine Aufgabe würdiger lösen wollten, die ich mich verpflichtet hielt auf die Tagesordnung zu bringen.

Es wird vielleicht nicht an solchen fehlen, welche Verrat an der Partei nennen, was zu tun mich nur treue Hingebung an die Partei bestimmen konnte. Läge mir nichts an dem Liberalismus, nun, ich würde mich nicht so sehr um ihn bemüht haben. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine befriedigende Lösung unserer politischen Aufgaben nur dann gelingen wird, wenn der Liberalismus aufhört, vorwiegend Opposition zu sein, wenn er dazu gelangt, gewisse unendlich wichtige Anliegen der Nation, für die nur er ein volles und aufrichtiges Verständnis hat, in eigener gouvernementaler Tätigkeit zu befriedigen, wenn wir einen wohltätigen erfrischenden Wechsel liberaler und konservativer Regierungen bekommen. Der Liberalismus muß regierungsfähig werden. Wer darin eine Verkümmerung der liberalen Größe findet, daß er, statt als Opposition ein Unbegrenztes zu fordern, als Regierung ein Geringes tun soll, dem kann ich freilich nicht helfen. Aber einen Abfall vom Liberalismus wird doch wohl niemand die Forderung zu nennen wagen, daß der Liberalismus endlich eine seine Gedanken selbst realisierende Macht werde. Ich bin weit davon entfernt, eine Grenze ziehen zu wollen, über die er diese Macht nicht ausdehnen solle: soweit seine Macht wirklich reicht, soll er sie mit allem Nachdruck üben; ich wünschte nur, er hörte auf, sich durch Illusionen über den Umfang seiner Kräfte um alle wirkliche Macht zu bringen.



Quelle: Hermann Baumgarten, “Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik,” in Preußische Jahrbücher, Jg. 18 (November-Dezember 1866): S. 455-515, 575-629.

Abgedruckt in Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, Hg. und Einl. Adolf M. Birke. Frankfurt a.M.: Ullstein, 1974, S. 23-150, hier S. 132-49.

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