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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

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All dieser verzweifelten Not sind wir nun mit einem Schlag enthoben. Heute sind die Zweifel über das, was in Deutschland möglich sei, nicht nur den Denkenden, sondern mehr fast der Masse der Nation genommen. Sie greift die existente deutsche Macht mit Händen. Sie hat ihre Taten gesehen und empfunden, und diese Taten sind nach der langen trübseligen Misere unserer Ohnmacht von so unwiderstehlicher Gewalt, daß die Denkweise der Deutschen in Monaten Veränderungen erfahren hat, die wir vor Dezennien nicht hoffen durften. Alle die unlösbaren Probleme, mit denen wir uns seit achtzehn Jahren quälten, sind plötzlich aus unserem Gesichtskreis gerückt, und es ist ein einziges Problem geblieben, das freilich noch viele Arbeit machen wird, dessen Bewältigung wir aber deshalb hoffen dürfen, weil die tatsächlichen Verhältnisse alle Gedanken und Bestrebungen jetzt ebenso auf denselben Punkt zusammenführen, wie sie dieselben früher nach allen Windrichtungen auseinanderrissen. Jetzt handelt es sich lediglich darum, wie die Kleinstaaten zu dem unbestritten dominierenden Preußen ein gesundes Verhältnis finden können. Daß Preußen die deutsche Macht, alle übrigen Länder haltlose Bruchteile sind, welche nur durch einen innigen, ehrlichen Anschluß an jene ihre eigene Existenz sichern können, das ist eine Tatsache, an welcher der eigensinnigste schwäbische Demokrat nur sich selber weismacht, zweifeln zu können. Diese wohltuende Vereinfachung unserer Lage, dieses Glück, daß wir endlich festen sicheren Boden unter den Füßen fühlen, wird aber sicher in kurzem eine Menge unserer politischen Unarten zurückdrängen, und die kernige Gesundheit, deren wir uns gottlob auf anderen Lebensgebieten erfreuen, endlich auch unserer Politik zustatten kommen lassen. Die Schwätzer, welche bisher die Breite der Bühne besetzt hielten, werden in der scharfen klaren Luft, in der wir uns jetzt bewegen, kein Glück mehr machen. Nachdem wir im größten Maßstab erlebt haben, was Handeln ist, werden wir keine Freude mehr daran finden, uns das Ohr mit hochtrabenden Redensarten kitzeln zu lassen. Da die Arbeit der politischen Dilettanten so gründlich mißlungen ist, werden wir fordern, daß in dem großen Staatswesen, durch das wir eingetreten sind in das Weltleben, der ganze Ernst und die männliche Tüchtigkeit bewährt werde, die sich auf allen anderen Gebieten längst für uns von selbst versteht. Nachdem wir erlebt haben, daß in einem monarchischen Staat der Adel einen unentbehrlichen Bestandteil ausmacht, und nachdem wir gesehen haben, daß diese viel geschmähten Junker für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben wissen trotz dem besten Liberalen, werden wir unsere bürgerliche Einbildung ein wenig einschränken und uns bescheiden, neben dem Adel eine ehrenvolle Stelle zu behaupten. Wir meinten, mit unserer Agitation die deutsche Welt von Grund aus umzukehren: nun, lediglich uns selber hinauszukehren waren wir im besten Zuge; ich denke, wir werden diese Erfahrung beherzigen. An den größten Erlebnissen, die unsere Augen gesehen haben, sind wir gewahr geworden, wie höchst hinfällig doch selbst diejenigen Hypothesen waren, auf die wir wie auf Felsengrund unsere nationale und liberale Politik in den letzten Jahren gebaut hatten. Fast alle Elemente unseres politischen Systems sind durch die Tatsachen als irrtümlich erwiesen.

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Ob wir auf die Krone, auf die Minister, auf den Adel, das Militär oder ob wir auf die Abgeordneten, die Magistrate, die Zeitungen blicken, sie alle sind anders geworden, sie haben alle Großes gelernt. Und dieses Lernen hat seine Macht nicht nur in den Vorstellungen des Verstandes, sondern in den Regungen des Herzens. Sie denken nicht nur anders, sie fühlen anders. Vor drei Monaten tönte dem Ruf: Partei oder Vaterland? von allen Seiten die wilde Antwort entgegen: Partei! Heute geben sie alle dem Vaterland die Ehre.

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