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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

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Es ist traurig zu sagen, daß die mächtigste Fraktion des preußischen Liberalismus, die Fortschrittspartei, sich dieser handgreiflichen Pflicht vollständig versagt und durch ihre Haltung im Gegenteil die schwere Schuld auf sich geladen hat, die Freunde Preußens in den Kleinstaaten noch mehr zu verwirren, die einen im Moment der größten Entscheidung, die wir seit fünfzig Jahren erlebt haben, zu tatloser Passivität, die andern gar zu aktiver Teilnahme für Österreich zu bestimmen. Und nicht nur die Fortschrittspartei, auch das linke Zentrum folgte größtenteils einer so unbegreiflichen Politik, und nur die Mehrzahl der Altliberalen stand an dem Platz, den Pflicht und Klugheit jedem freisinnigen Patrioten anwies. Ich habe damals gegen die Mitte Mai meinem geängstigten Herzen Luft gemacht in einer den norddeutschen Liberalen gewidmeten Flugschrift*, deren Argumente natürlich für Preußen doppelt und dreifach galten. Ich verzichte auf die Genugtuung zu berichten, wie dieser aus dem Süden kommende Ruf für Preußen in der preußischen Hauptstadt von einzelnen zurückgewiesen wurde. Es gehörte damals einiger Mut dazu, seinen Dissens von der Masse der Partei unumwunden auszusprechen.

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So standen die Dinge am 14. Juni. Drei Wochen später war die ganze deutsche Welt von Grund aus verwandelt. Österreich lag am Boden. Die Mittelstaaten hatten sich als einfache Kleinstaaten enthüllt ohne jede selbständige Leistungsfähigkeit. Preußen stand über dieser Armseligkeit der Kleinstaaterei wie ein Riese voll strotzender Kraft. Das prahlerische Österreich hatte es in acht Tagen zerschmettert. Und nicht nur wie die gesunde Macht neben der in allen Gliedern kranken, sondern auch wie die hochzivilisierte Macht neben einer wesentlich barbarischen stand es da. Die »deutschen Brüder« in Österreich übernahmen es, die süddeutschen Enthusiasten gründlich zu kurieren. Welche schamlosen Lügen in ihrer Presse, welche stumpfsinnige Brutalität auf den Verbandplätzen, in den Lazaretten, in der Gefangenschaft, welche Treulosigkeit gegen die Verbündeten, welche Unterwürfigkeit gegen den fremden Imperator! Jetzt erlebten die Großdeutschen in Bayern und Schwaben, was es mit dieser habsburgischen Herrlichkeit auf sich habe, jetzt sahen es die Blinden, daß das Haus Habsburg Österreich nicht viel weniger bis ins Mark vergiftet habe als einst Spanien und daß die brüderlichen Phrasen der Deutschösterreicher nichts waren als eine plumpe Schlinge für die Gimpel im Reich. Über alle Erwartung klein und arm erwiesen sich sämtliche Teilnehmer des großen Bündnisses zur Züchtigung Preußens, arm an Gedanken, an Kenntnissen wie an wirklicher Begeisterung, klein auf dem Schlachtfeld wie im Kabinett. Und über alle Erwartung groß und reich stand das viel geschmähte Preußen da, groß in jeglicher Leistung, reich an jeglicher Kraft. Die erstaunte Welt wußte nicht, was sie an diesem Staat mehr bewundern sollte, die einzige Organisation seiner Streitkraft oder die sittliche Hingebung seiner Bevölkerung, die unvergleichliche Gesundheit seiner wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Solidität seiner Volksbildung, die Größe seiner Siege oder die Bescheidenheit seiner Siegesberichte, die Tapferkeit seiner jungen Soldaten oder die Pflichttreue seines greisen Königs. Alles, alles zeigte sich in diesem Staat, den man seit Jahren als die sichere Beute der Revolution zu betrachten gelernt hatte, von wunderbarer Echtheit, und je mehr man die rätselhafte Erscheinung prüfte, desto mehr fand man zu bewundern. Dieses Volk in Waffen stürmte mit unaufhaltsamer Gewalt auf einer Siegesbahn ohnegleichen vorwärts und blieb doch ein Volk des Friedens, ganz unberührt von dem Rausch des Kriegsruhms, zurückverlangend nach der stillen Arbeit, fast mehr trauernd über die Gefallenen als jubelnd über den Sieg. Es entwickelte eine unvergleichliche Bravour in einem Kampf, den es lange mit aller Anstrengung von sich ferngehalten hatte. Es stellte alle seine Kraft einer Regierung zur Verfügung, gegen die es vier Jahre den erbittertsten Krieg geführt hatte.

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* Partei oder Vaterland?

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