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Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

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Das Lied, das zu Beginn des Krieges in Tausenden von Exemplaren zugunsten der Verwundeten verkauft wurde, hat sich wie die die Gesinnung des ganzen Volkes so treffend wiedergebende „Wacht am Rhein“ meinem Gedächtnis eingeprägt, obwohl ich nicht die beiden Gesänge in ihrer poetischen Kraft miteinander vergleichen will.

Besonders ging auch uns Juden der Umschwung der inneren Verhältnisse lebhaft an. Durch das Gesetz über die Gleichberechtigung der Bekenntnisse vom Jahre 1869 waren in ganz Deutschland nunmehr die Schranken gefallen, die in den Gesetzen gegen den Zugang zu Ämtern für sie aufgerichtet waren; man konnte nicht ahnen, daß die Gesellschaft und die Praxis der Behörden noch lange diese Schranken beachten und neue aufrichten würden. Schon im Kriege 1866 hatte es jüdische Offiziere gegeben; im französischen Kriege haben es zahlreiche Juden zu einer gleichen Anerkennung ihrer Pflichttreue und Tapferkeit gebracht. Die beiden Vettern meiner Mutter, Moritz und Albert Marcuse, Söhne des ältesten Bruders der Großmutter, kamen, ersterer als Stabsarzt, letzterer als Leutnant, mit dem Eisernen Kreuze aus dem Felde zurück. Man sprach von jüdischen Richtern und Verwaltungsbeamten, nachdem in den vorangegangenen Jahren schon die Ernennung zum Rechtsanwalt für einen jüdischen Assessor kaum nach jahrelangem, unbesoldeten Staatsdienste durchzusetzen gewesen war. So war denn auch in unsern Kreisen die Freude und Hoffnung eine fast unbeschreibliche. Nicht, daß nun jeder Jude eine Staatsstellung ersehnt hätte; aber daß das Gefühl der grundsätzlichen Entrechtung, eines Helotentums, von uns genommen schien, das hob den Sinn und spornte zu Leistungen im Dienste des Vaterlandes nunmehr auch auf den Gebieten der friedlichen Entwicklung an.



Quelle: Martin Lövinson, Geschichte meines Lebens, Teil I, Die goldene Jugendzeit. Berlin, 1924.

Abgedruckt in Monika Richarz, Hg., Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871, 3 Bde. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1976, Bd. 1, S. 248-56.

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