GHDI logo

Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

Seite 5 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


So bin ich denn in meiner Erzählung bis zum Jahre 1871, d. h. bis zu meinem 12. Lebensjahre gekommen, und ich muß nun den Abschied von diesen in der Erinnerung schönsten Jahren nehmen. Es ist nicht nur für unsern kleinen Familienkreis, sondern für die politischen und sozialen Verhältnisse des gesamten Vaterlandes eine Schicksalsstunde geworden. Der siegreiche Krieg fand seinen Abschluß in dem ruhmreichen Frankfurter Frieden und der Gründung des neuen Deutschen Reiches. Am 15. und 16. Juni sind die stolzen Truppen in die neue Kaiserstadt eingezogen, und es hat einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, daß ich das prunkvolle Schauspiel wieder von dem Fenster des väterlichen Geschäfts mit ansehen konnte. Schon am Tage vorher hatten wir die von der Künstlerschaft in nie geahnter Weise in Szene gesetzte Ausschmückung der Triumphstraße in Augenschein genommen. Der Weg führte vom Kreuzberg über die Belle-Alliance-Straße, die Königgrätzer Straße, am Potsdamer Tor vorbei durch das Brandenburger Tor nach den Linden, die den Höhepunkt des Schmuckes bildeten, und zum Lustgarten. Die Enthüllung des dort eben fertiggewordenen Denkmals für Friedrich Wilhelm II. bildete den Schlußakt. Ich weiß nicht mehr, was die auf den Hauptpunkten dieser Siegesstraße, an den Toren, von vergänglichem Material errichteten Denkmäler darstellten. Es werden die Verkörperungen des Sieges, des deutschen und des engeren preußischen Vaterlandes gewesen sein.

Das Großartige dieses unvergeßlichen Festes aber war die gehobene Stimmung, der sich niemand entziehen konnte. Erinnerten auch die erbeuteten Geschütze, die den ganzen langen Weg säumten, daran, daß der Weg zur Einigung des Vaterlandes durch blutige drei Kriege geführt hatte, so war die Freude über das Ende dieser Zeit der harten Gewalt doch stärker als der Stolz auf den errungenen Sieg. Alle Welt erwartete vor allem das Ende der schweren inneren Kämpfe unter den Parteien und unter den einzelnen deutschen Ländern und als Folge des Friedens einen Aufschwung von Handel und Industrie, wovon wieder Kunst und Wissenschaft die schönsten Antriebe empfangen mußten. Die sympathische Gestalt des über Siebzigjährigen, für seine Person so bescheidenen ersten Hohenzollernkaisers schien das monarchische System für alle Zukunft zu sichern. Die starke Gegnerschaft, die Bismarck durch sein politisches Auftreten auf sich gezogen hatte, verstummte, nicht nur vor seinen Erfolgen, sondern vor der Größe, mit der er unter Verleugnung seiner ursprünglichen junkerlichen Ideale nicht gezögert hatte, um den Preis der Einigung Deutschlands dem neuen Reiche eine scheinbar demokratisch-parlamentarische Verfassung zuzugestehen. Alte Republikaner stimmten in den Jubel ein, und Onkel Moritz dichtete ein altes achtundvierziger Freiheitslied in ein deutsches Einheitslied um. Es beginnt mit den Worten:

Vorwärts, vorwärts, Deutschlands Söhne,
Mutig vorwärts in’s Gefecht,
Wag’ es niemand mehr und höhne
Unsere Freiheit, unser Recht.

Wilhelm Taubert, der bekannte Liederkomponist, hat es nicht verschmäht, hierzu die Melodie zu setzen. Der zweite Vers mag noch hierher gesetzt werden. Er lautet etwa:

Für des Lebens höchste Güter,
Für das Deutsche Vaterland,
Stehn als Schützer und Behüter
Wir mit Kopf, mit Herz und Hand.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite