GHDI logo

Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

Seite 4 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Die bisherige Erzählung der Charlottenburger Jahre hat schon gezeigt, daß unser Haushalt den Charakter eines recht wohlhabenden, wenn auch nicht üppigen Bürgerhauses angenommen hatte. Die Mittel dazu gewann unser Vater durch das sichtlich aufblühende Geschäft. Die Beseitigung des Zunftzwanges in seinen letzten Ausläufern hatte es ermöglicht, sich geschäftlich den Wünschen des Publikums ganz frei anzupassen; so gingen aus der Fabrik z. B. neben den Möbeln auch Uhren und Musikinstrumente, Elfenbeinschnitzereien und ähnliches hervor. Lange hat als Beispiel solcher kleinen Kunstwerke ein hölzernes kleines Ei unser lebhaftes Interesse erweckt, in dem ein ganz kleines Schachspiel untergebracht war, oder ähnliche Geräte, die zur Aufbewahrung des beliebten Bullrichschen Verdauungssalzes von den Herren stets mit herumgetragen wurden. Mit solchen Neuheiten bezog das Geschäft anfangs die Leipziger Messe, später aber die in jenem Jahrzehnt aufkommenden Welt- und Landes-Industrieausstellungen. So findet sich der Name der Firma unter den Ausstellern in London 1863, namentlich aber auf der großen Weltausstellung 1867 in Paris. Wochen, wenn nicht Monate hat damals Vater im Auslande bei solchen Gelegenheiten zugebracht und wertvolle Verbindungen im Auslande angeknüpft. In London wurde sogar eine Filiale eingerichtet, der ein Danziger Landsmann der väterlichen Familie, Julius Jacobi, vorstand. Die Vertretung auf der Pariser Ausstellung hatte der junge Siechen, der spätere Chef des seinerzeit und wohl auch jetzt noch hochberühmten Bierhauses dieses Namens. Manche freundschaftlichen Beziehungen ergaben sich aus dem Zusammenwirken der Aussteller bei den Vorbereitungen und der Durchführung eines solchen Unternehmens. Die Herren waren dann in den fremden Orten und auf der Reise viel zusammen, und der Verkehr setzte sich in der Heimat nicht selten fort.

Schwierigkeiten schwerer Art blieben dem Vater freilich auch damals nicht erspart. Ich nenne nur die drei Kriege mit den unvermeidlichen Kredit- und Absatzstockungen sowie einen verheerenden Brand, der in der Neujahrsnacht, wenn ich nicht irre, zum Jahre 1869, die Fabrik in Asche legte, und dann nach dem Kriege 1870 einen großen Streik der Arbeiter des ganzen Geschäftszweiges, der trotz der bekannt arbeiterfreundlichen und demokratischen Prinzipien der Prinzipale auch auf unsere Fabrik übergriff. Mit seiner ungewöhnlichen Elastizität wußte Vater alle diese schweren Widerwärtigkeiten zu überwinden. Als im Kriege 1866 oder 1870 der Möbelverkauf stockte, gleichzeitig aber die Cholera drohend in Berlin auftrat und in der noch nicht kanalisierten Stadt Schrecken verbreitete, erfand er ein Desinfektionsmittel, das nach meiner Erinnerung aus Torfstreu und Eisenvitriol bestand, und in die in den Wohnungen fast allgemein im Gebrauch stehenden Nachtstühle geschüttet werden sollte. Die Bestandteile kamen auf dem Wasserwege an die Fabrik heran, die ja mit ihrer Hinterfront an die Spree grenzte, und wurden dort gemischt. Der Verkauf geschah in großen Papiertüten, welche die Aufschrift „Antimiasmaticum“ trugen. Ein großer Reklamedienst sorgte für die Empfehlung des sehr zeitgemäßen Mittels, das wirklich ganz praktisch gewesen sein muß, und die Zusendung an die Verbraucher besorgten die nicht ausreichend mit ihren eigentlichen Aufgaben beschäftigten Angestellten der Fabrik mittels einiger Kremser, welche Vater zu diesem Zwecke in Charlottenburg aufgetrieben hatte und deren Besitzer froh waren, in dieser schlechten Geschäftszeit auch in der Woche einen lohnenden Verdienst gefunden zu haben.

[ . . . ]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite