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Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

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Vor allem aber wurde darauf hingewiesen, daß die vielen christlichen Arbeiter und Angestellten in allen diesen Punkten eine Berücksichtigung ihres religiösen Gefühls wie ihrer materiellen Interessen zu beanspruchen hatten. Damit war der Toleranzgedanke, der für unser ganzes Leben eine Richtschnur werden sollte, in den Mittelpunkt unserer bürgerlichen und religiösen Lebensanschauung gestellt. Wie wir als religiöse Minderheit den Staatsinteressen Rechnung zu tragen hatten, so hatten wir im Privatleben für die Pietät, mit der unsere andersgläubigen Mitbürger an ihrem Glauben und den dementsprechenden Gebräuchen hingen, unbedingte Achtung zu üben. Ich kann nur sagen, daß in jenen Tagen vor der Erfindung des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Antisemitismus die Anschauungen unserer christlichen Umwelt sich hiermit vollkommen deckten.

So wurde es fast mit Anerkennung dort draußen begrüßt, daß auch wir Juden nun einen geregelten Gottesdienst haben sollten, und den wenigen dort wohnenden Glaubensgenossen war es schon recht, daß unser Vater ihnen nicht nur die Mühen, sondern auch restlos die Kosten dieser Einrichtung abnahm. Wo das Zimmer lag, habe ich schon erwähnt, ein Schrank wurde durch Anbringung eines Vorhangs zur heiligen Lade umgewandelt und es fand sich, daß im Besitze der Familien sich zwei Torarollen befanden, die bereitwillig für den guten Zweck zur Verfügung gestellt wurden. Als Vorbeter wurden zwei würdige alte Männer gefunden, Herr Ebenstein und Herr Cohn, von denen der erstere früher in Neuruppin Lehrer, Vorbeter und Schochet gewesen war und nun im Ruhestande in Berlin lebte, während der andere durch einen kleinen Handel seinen bescheidenen Lebensunterhalt zu finden suchte. Da sie an den Feiertagen nicht fahren konnten und zudem ihr Dienst sie von früh bis spät in Anspruch nahm, so kamen sie am Vorabend der Festtage bereits früh zu uns heraus und zu Mutter in Kost ist“.

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Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie meine Mutter es fertigbrachte, neben dem Fortgang der Wirtschaft auch die vielen Gäste in jeder Weise aufmerksam aufzunehmen. Denn mit den bisher genannten war diese Schar noch nicht vollzählig. Während der Kriege kamen regelmäßig die jüdischen Soldaten aus den Charlottenburger Lazaretten dazu; damit aber noch nicht genug: natürlich sprach sich die Kunde von dem schönen Gottesdienste bald herum, und wer dazu erschien und kein Heim mit festtäglicher Verpflegung zur Verfügung hatte, war ohne weiteres bei unsern Eltern zu Gast. So war der große Gartensaal, in dem zu solchen Zeiten gespeist wurde, dann wohl ebenso mit Gästen gefüllt, wie damals zum Einzuge des Heeres 1866. Von den bei dieser Gelegenheit gemachten Bekanntschaften nenne ich nur zwei. Großvater Lövinson entdeckte eines Tages bei seinen Spaziergängen unter den Erdarbeitern, die damals aus dem Engpaß am Spandauer Berg eine breite Chaussee zu machen hatten, einen fleißigen jungen Mann, den er als Juden erkannte und in einer Arbeitspause darauf ansprach. Der entpuppte sich als ein Buchbinder aus Rußland und nannte sich Hermann Presakowicz oder auch Polakewicz. Er war wie viele Juden und Christen, um dem unerträglich langen und harten Militärdienste zu entgehen, aus seiner ungastlichen Heimat entflohen und hatte nur vorübergehend in seiner Profession Arbeit gefunden; um nicht der Mildtätigkeit der Glaubensgenossen zur Last zu fallen, hatte er kurz entschlossen die erste Arbeitsgelegenheit ergriffen, die sich ihm bot. Nun war ihm aber geholfen, nicht nur für die Feiertage, an denen er selbstverständlich unser gleichberechtigter Tischgast war, sondern auch für die Dauer. Unser Vater nahm ihn zunächst in die Fabrik als ungelernten Hilfsarbeiter auf. Später, als wir wieder nach Berlin hineingezogen waren, leistete er daneben im Hause noch manche Hilfsdienste. Er fand in einem Hause meines Vaters ein recht primitives, aber um so billigeres Quartier, konnte sich bald mit Unterstützung meines Vaters eigenes Werkzeug anschaffen und ist dann selbständiger Meister in seinem Gewerbe geworden.

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