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Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

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In das Jahr 1864 fällt der deutsch-dänische Krieg, dessen siegreiches Ende wir als Zuschauer des feierlichen Truppeneinzuges vom Fenster unseres Geschäftslokals „Unter den Linden“ mit ansehen durften. Unser Vater war von hoher patriotischer Begeisterung über den glänzenden Verlauf des Krieges nach so langen Friedensjahren erfüllt. Sie äußerte sich darin, daß er das Holz erbeuteter feindlicher Lafetten von der Heeresverwaltung erwarb und daraus allerhand kleine Andenken in der Fabrik schnitzen ließ, die zugunsten der Kriegsopfer verkauft wurden. Es befinden sich noch Aschenbecher, Zigarrenabschneider und ähnliche Kleinigkeiten im Besitze von Familienangehörigen.

Das Geschäft hatte in dieser Zeit einen guten Aufschwung genommen. Es verkehrten in unserm Hause bekannte Architekten wie der Erbauer der Synagogen zu Breslau und Hannover, Oppler, und der hat nach gotischen Motiven ein Tischchen mit zwei Bänkchen gezeichnet, die für die Kinderstube bestimmt, uns Kindern allen als erste Arbeitsplätze gedient haben.

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Das literarische Bedürfnis der Familie wurde durch die noch im Format eines kleinstädtischen Wochenblattes erscheinende „Vossische Zeitung“ und durch die großen illustrierten Blätter „Gartenlaube“ und „Über Land und Meer“ befriedigt. Doch werden wir uns damals auf das Besehen der Bilder beschränkt haben, da wir noch zu klein waren, um bei den abendlichen Vorlesungen der Mutter aufzubleiben. Das aber weiß ich bestimmt, daß wir in der Bellevuestraße noch die erste Bekanntschaft mit unserem späteren Liebling Wilhelm Busch machten, dessen Münchener Bilderbogen für uns einen beliebten Wunsch zum Geburtstag bildeten.

So habe ich denn wohl alles erzählt, was aus der Zeit meiner ersten sechs Lebensjahre in meinem Gedächtnis haften geblieben ist, in denen ich aus meiner Vaterstadt nicht hinausgekommen bin, denn die Sitte der Sommerreisen war noch auf die besser gestellten Kreise beschränkt, während wir uns nur zum mittleren Bürgerstand rechneten. Höchstens gab es einmal eine sogenannte Landpartie, deren Ziel aber immer die großväterliche Besitzung in Treptow bildete. Die alljährliche Fabriklandpartie, zu der die Chefs nebst ihren Familien den in Kremsern des Morgens früh schon ausrückenden Handwerkern und Angestellten erst des Nachmittags in Landauern nachfuhren, ist, soviel ich weiß, immer nach Pichelsberge gegangen.

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Eine ungeheure Umgestaltung der täglichen Ordnung brachten jedesmal die hohen jüdischen Feiertage mit sich. Ich habe schon die Einrichtung der Haus-Synagoge erwähnt, die unser Vater hauptsächlich eingerichtet hatte, um unserer Mutter, die zu jener Zeit um keinen Preis an den Feiertagen gefahren wäre, den Besuch des Gottesdienstes zu ermöglichen. Das Vorbild für die Kinder, die auf jeden Fall ein streng religiöses Leben kennenlernen sollten, war sicherlich hierbei ausschlaggebend. Freilich regten sich früh in uns Fragen, ob es auch ganz konsequent sein möchte, daß der Vater an den Sabbaten und den hohen Feiertagen unbedenklich die Straßenbahn benutzte, daß wir in der Schule an den Feiertagen schrieben, ja daß wir bis zur Sexta an dem christlichen Religionsunterricht teilnehmen durften. Aber man sagte uns für alle diese Unstimmigkeiten eine der herrschenden Aufklärung entsprechende Deutung, so besonders, daß mit der Anerkennung der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung auch die Erfüllung der bürgerlichen Pflichten Hand in Hand gehen müsse. Wer zu den öffentlichen Schulen, wie wir, nunmehr zugelassen sei, müsse sich auch der allgemeinen Schulordnung fügen; wer ein Geschäft in dem deutschen Heimatstaate eröffne, müsse es auch an den allgemein anerkannten Werktagen dem Verkehr eröffnet halten und an dem bürgerlichen Ruhetage schließen.

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