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Emil Lehmann spricht zu den Leipziger Juden über die antisemitische Bewegung (11. April 1880)

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Man hat in dem scheinbar wissenschaftlichen Ausdrucke „Semiten“ ein neues Schibolet oder Schimpfwort aufgefunden, und seiner bedienen sich auch die, welchen die Erzählung von den drei Söhnen Noah’s eine Mythe ist, auch die, welche die Eintheilung der Menschen in drei Klassen oder Rassen als unwissenschaftlich verwerfen.

Alles das geschah unter der Herrschaft eines Gesetzbuchs, das mit Strafen bedroht denjenigen, der in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, (§ 130) wie denjenigen, der öffentlich eine mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft (§ 166).

Alles das ist auch ohne Privatanklage vom Staate direkt zu bestrafen. Gleichwohl hat noch kein Staatsanwalt von Amtswegen die Verfasser, Verleger und Verbreiter jener judenfeindlichen Schriften angeklagt, hat keine Polizeibehörde Anstoß genommen an den verlockenden Aushängeschildern in Buchhändlerläden mit der Inschrift „Zur Judenfrage“ und den zahllosen darunter liegenden Pamphleten. Als ob es der gesetzlich ausgesprochenen Gleichberechtigung gegenüber heutzutage noch eine Juden frage geben könne!

Wir haben seit dem 21. Oktober 1878 das bekannte Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Aber obschon ein guter Theil jener Schriften die Juden nur zum Anlaß und Ausgangspunkt nimmt, um sozialdemokratische Angriffe und Verunglimpfungen gegen unsere deutschen Zustände zu richten, obwohl sie zumeist den Gegensatz zwischen den angeblich mühelos Erwerbenden und den angeblich Ausgebeuteten zu schüren bestimmt sind – das Sozialistengesetz kam auf jene Schriften nicht zur Anwendung. Nur ein Staatsanwalt, der in Bremen, hat unter Hinweis auf jene strafgesetzlichen Bestimmungen vor der Errichtung von Antisemitenvereinen gewarnt.

Der Ausschuß des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes hat die Frage der strafgerichtlichen Verfolgung wiederholt zum Gegenstand seiner eingehenden Erwägungen gemacht. Ich erachte es unter unserer Würde, im Wege der Privatanklage auf jene Hetzschriften hinzuweisen. Aufgabe der Regierungen ist es, von selbst dagegen einzuschreiten. Und wo dies nicht geschieht, da hilft auch eine Privatanklage blutwenig. Eine Freisprechung, ein matter Strafantrag seitens der von Privatanklägern angerufenen Staatsanwaltschaft – und auch das wurde erlebt – wirkt schlimmer als eine Strafvollstreckung, die Märtyrer schafft.

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