GHDI logo

Das Religionsverständnis der Arbeiter (1890)

Seite 2 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Alle bisher Geschilderten gehörten jener zielbewußten, begeisterten, gedankenkräftigen, edeldenkenden, wirklich wahrheitsdurstigen Gruppe meiner sozialdemokratischen Arbeitsgenossen an. Bei aller Ablehnung gegen die Religion, bei aller Geringschätzung der Kirche waren sie gemäßigt in ihrem Urteil, anständig in ihren Äußerungen und mehr oder weniger bemüht, die Stellung derer, die noch glaubten, mehr oder weniger zu würdigen, zu verstehen, zu erklären. Aber es gab eine viel größere Gruppe gleich stark geprägter Sozialdemokraten, die, roher als jene, in der That nur noch Hohn und Spott und Blasphemie für die Heiligtümer unsers Glaubens hatten. Auch bei ihnen war das Stichwort: „Natur ist Gott, Gott ist die Natur.“ Aber sie variierten es gern, manchmal in der unzüchtigsten Form. So saßen solche Kumpane einmal in einer Kneipe zusammen; man kam auch auf solche Dinge zu sprechen und erklärte sie kurzer Hand für Blödsinn, und einer rief aus: „Ach was, unser Gott ist ein strammes Weib.“ Ein lautes Gelächter über den Witz schnitt dann die ganze flüchtige Debatte schnell ab. Andre ähnliche schlimme Dinge, die ich bei andern Gelegenheiten hörte, mag ich nicht hierher setzen.

Vorzüglich war es die Jugend, die vielfach solche Gesinnungen hatte. Hier war von Ernst, von einem Bemühen, auch nur einmal objektiv zu prüfen, am allerwenigsten die Rede. Man war selbstverständlich meist längst über solche Dinge hinweg. Dem einen, einem Thüringer, galt Christentum gleich Antisemitismus, den er als ebenso unnobel wie unberechtigt haßte, und den er, übrigens mit einigem Recht, für das Gegenteil vom Christentum erklärte. Man ginge in die Kirche, machte fromme Gesichter, und im übrigen lebte man doch draußen keinen Deut besser als die andern, Gleichgiltigen, die viel ehrlicher als jene handelten. Ich konnte ihm nur erwidern, was ich dem ersten gesagt hatte. Er war auch still davon aber von jener Gleichung: Christentum - Antisemitismus ließ er sich partout nicht abbringen. Übrigens war es schwer, mit ihm darüber überhaupt länger zu reden. Er hielt das offenbar, wie viele, die mir das geradezu ins Gesicht sagten, nicht mehr der Rede wert. Denn „Religion — det wohnt nich mehr unter den Arbeitern,“ sagte in gleicher Haltung und Meinung einmal ein andrer junger Bursche, aus Berlins Umgebung gebürtig. Er war mir zu Anfang meines Fabriklebens besonders hochmütig gekommen, als ich ihn meine christliche Gesinnung merken ließ; später verkehrte ich viel und gern mit ihm; er war trotz mancher Berliner Manieren ein kleiner kluger, schneidiger, strebsamer Kerl, der es eben nicht besser wußte und allmählich, der einzige von allen, wirklich durch meinen übrigens von allem Bekehrungsstreben freien Verkehr zu andrer, tieferer, ernsterer Gesinnung über Religion und Christentum, aber wohl kaum zu wirklicher Frömmigkeit gelangte. Ich traf ihn gleich an einem meiner ersten Sonntage nachmittags und ging dann mit ihm spazieren. Unterwegs fragte er mich gelegentlich, was ich am Vormittag gemacht hätte. „Ich war in der Kirche,“ antwortete ich. „Dummer Mensch,“ war seine Entgegnung. Ich fragte ihn freundlich, wie er dazu käme, so zu reden, und sagte ihm einiges von der Vernünftigkeit meiner religiösen Überzeugungen, und kurz bevor ich für immer von Chemnitz fortging, sagte er mir eines Sonnabends ganz freiwillig, er wollte mit mir morgen in die Kirche gehn, wo es ihm dann auch ganz gut gefiel. Schließlich machte er mir noch eine Liebeserklärung: er wünschte, er könnte immer in solcher Gesellschaft wie der meinen sein, da würde man ein ganz andrer Mensch.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite