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Der Einfluss der Leihbibliotheken auf den Romanabsatz (1884)

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In früherer Zeit setzte sich allabendlich die Familie zusammen mit ihrer Handarbeit, um einige Capitel eines Buches gemeinschaftlich zu lesen und durchzusprechen. Man beschäftigte sich mit einem Roman der Paalzow* oder von Bulwer acht bis vierzehn Tage. Wir sehen noch heute davon die Nachwirkung, denn ein sehr großer Theil jener vor vierzig Jahren erschienenen Romane geht noch heute in den Leihanstalten von Hand zu Hand; keine kann sie entbehren. Ein so aufgenommener Roman erhielt sich im Bewußtsein der Leser, wurde von Eltern auf Kinder übertragen durch Generationen, bis heute. Und werden von diesen Romanen nicht noch in unserer Zeit neue Auflagen gemacht? Warum haben denn das die Leihbibliotheken nicht verhindern können?

Die Production ließ zu jener Zeit dem Leser Muße zum ruhigen Genießen. Dieselben Romane, die sich durch vierzig Jahre erhalten haben, würden, wenn sie heute erschienen, nach kurzer Zeit vergessen sein oder gar nicht in den Vordergrund treten.

Leihbibliotheken, die auf der Höhe der Zeit stehen, oder besser gesagt, den Anforderungen des Publicums entsprechen, führen also jene alten eingebürgerten Romane, eine Auslese der besten Werke aus den letzten Jahrzehnten und die Novitäten der Saison, von denen ein großer Theil in dem nächstgedruckten Katalog nicht mehr zu finden ist. Hieraus erklärt sich auch die Abneigung mancher Schriftsteller, die ihren Namen vergebens in den Katalogen suchen. Schriftsteller von Bedeutung haben wir auf feindlicher Seite bisher kaum gefunden; diese wissen aus Erfahrung, wie sehr die Leihbibliotheken mitgewirkt haben, ihren Ruf in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen; sie wissen, daß von den zehn Auflagen ihrer Werke kaum mehr als eine in die Leihanstalten gegangen ist, die aber die anderen neun mit hervorgerufen hat.

Es kann zugegeben werden, daß die Verbreitung mittelmäßiger Romane durch die Leihbibliothek das Publicum abhält, solche zu kaufen; indessen daraus dürfte doch wohl der Leihbibliothek kein Vorwurf zu machen sein. Wir wenigstens rechnen ihr das vielmehr als ein Verdienst an.


* Henriette Paalzow (1788–1847), beliebte vormärzliche Erzählerin (Godwie-Castle, 3 Bde. 1836), deren Schriften zur bevorzugten Lektüre des preußischen Hofes zählten.

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