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Friedrich Nietzsche verkündet „Gott ist tot!”: Die fröhliche Wissenschaft (1882)

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Die Erkenntnis mehr als ein Mittel. – Auch ohne diese neue Leidenschaft – ich meine die Leidenschaft der Erkenntnis – würde die Wissenschaft gefördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und groß geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurteil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, daß jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und daß Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und »Ethos« gilt. Ja es genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntnis (Neugierde), es genügt amour-vanité, Gewöhnung an sie mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brot, es genügt selbst für viele, daß sie mit einem Überschuß von Muße nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weitererzählen; ihr »wissenschaftlicher Trieb« ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den größten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück; »ohne sie«, sagt er endlich, »wäre alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt – auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und unsicher genug!« Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle andern kirchlichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urteil über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst merkwürdig genug ist, daß er die Wissenschaft über die Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von der »geoffenbarten Wahrheit« und von dem »ewigen Heil der Seele« – was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens! »Die Wissenschaft ist etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion« – dies Urteil blieb in der Seele Leos zurück: das eigentlich christliche Urteil über die Wissenschaft! – Im Altertum war ihre Würde und Anerkennung dadurch verringert, daß selbst unter ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend voranstand, und daß man der Erkenntnis schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, daß die Erkenntnis mehr sein will als ein Mittel.

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Im Horizont des Unendlichen. – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre – und es gibt kein »Land« mehr!

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