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Jacob Burckhardt über die deutsche Stimmungslage im und nach dem Krieg mit Frankreich (1870-72)

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II. An Friedrich von Preen, Basel, Sylvester 1870


Verehrtester Herr und Freund!

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Wie ist das Alles seit 3 Monaten geworden! wer hätte damals geglaubt, daß der Kampf tief in einen gräßlichen Winter hinein dauern und noch am letzten Tage des Jahres ohne Aussicht auf nahe Beendigung sein würde.

An diesen Jahresschluß werde ich mein Lebenlang denken! und wahrlich am wenigsten um meines individuellen äußern Schicksals willen. Die 2 großen Geistesvölker des jetzigen Continents sind in einer vollständigen Häutung ihrer ganzen Cultur begriffen, und was den Menschen vor Juli 1870 erfreute und interessirte, davon wird ihn 1871 ganz unendlich Vieles nicht mehr berühren – aber ein sehr großes Schauspiel kann es abgeben wenn dann unter vielen Schmerzen das Neue geboren wird.

Die Aenderung im deutschen Geist wird so groß sein als die im französischen; zunächst wird überall der Clerus beider Confessionen sich als den nächsten Erben der erschütterten Gemüther betrachten, allein es wird daneben bald ganz Anderes laut werden. Auch die Actien des «Philosophen» steigen bald stark, während Hegel mit den dießjährigen Jubileumsschriften als echter Jubilar seine definitive Retraite nehmen könnte.

Das Bedenklichste ist aber nicht der jetzige Krieg, sondern die Aera von Kriegen in welche wir eingetreten sind, und auf diese muß sich der neue Geist einrichten. [ . . . ]


III. An Friedrich von Preen, Basel, 26 April 1872

Verehrtester Herr und Freund

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Ich bin nicht unbillig. Bismark hat nur in eigene Hand genommen was mit der Zeit doch geschehen wäre, aber ohne ihn und gegen ihn. Er sah, daß die wachsende demokratisch-sociale Woge irgendwie einen unbedingten Gewaltzustand hervorrufen würde, sei es durch die Demokraten selbst, sei es durch die Regierungen, und sprach: ipse faciam, und führte die 3 Kriege 64, 66, 70.

Aber nun sind wir erst am Anfang. Nicht wahr, all unser Thun ist jetzt als beliebig, dilettantisch, launenhaft in einen zunehmend-lächerlichen Contrast gerathen zu der hohen und bis in alles Detail durchgebildeten Zweckmäßigkeit des Militärwesens? Letzteres muß nun das Muster alles Daseins werden. Für Sie, verehrter Herr und Freund, ist es nun am interessantesten, zu beobachten wie die Staats- und Verwaltungsmaschine militärisch umgestaltet werden wird; für mich: wie man das Schul- und Bildungswesen in die Kur nehmen wird u.s.w. Am merkwürdigsten wird es den Arbeitern gehen; ich habe eine Ahnung, die vor der Hand noch völlig wie Thorheit lautet und die mich doch durchaus nicht loslassen will: der Militärstaat muß Großfabricant werden. Jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten dürfen nicht in Ewigkeit ihrer Noth und ihrer Gier überlassen bleiben; ein bestimmtes und überwachtes Maß von Misere mit Avancement und in Uniform, täglich unter Trommelwirbel begonnen und beschlossen, das ist’s was logisch kommen müßte. (Freilich kenne ich Geschichte genug um zu wissen, daß sich die Dinge nicht immer logisch vollziehen). Es versteht sich, daß was man thut, ganz gethan werden muß, und dann ohne Erbarmen nach oben und nach unten. [ . . . ]

Die Entwicklung einer intelligenten Herrschergewalt, für die Dauer, steckt noch in ihren Kinderschuhen; in Deutschland zuerst wird sie vielleicht ihre toga virilis anziehen. Es giebt hierin noch große unbekannte Länder zu entdecken. Die preußische Dynastie ist jetzt so gestellt, daß sie und ihr Stab überhaupt gar nie mehr mächtig genug sein können. Vom Innehalten auf dieser Bahn ist keine Rede mehr; das Heil Deutschlands selber drängt vorwärts.

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