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Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/1878)

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– Mit dem Verfalle der äußeren politischen Macht, d. h. mit der aufgegebenen Bedeutsamkeit des römischen Kaisertumes, worin wir gegenwärtig den Untergang der deutschen Herrlichkeit beklagen, beginnt dagegen erst die rechte Entwicklung des wahrhaften deutschen Wesens. Wenn auch im unleugbaren Zusammenhange mit der Entwicklung sämtlicher europäischer Nationen, verarbeiten sich doch deren Einflüsse, namentlich die Italiens, im heimischen Deutschland auf so eigentümliche Weise, daß nun, im letzten Jahrhundert des Mittelalters, sogar die deutsche Tracht in Europa vorbildlich wird, während zur Zeit der sogenannten deutschen Herrlichkeit auch die Großen des deutschen Reiches sich römisch-byzantinisch kleideten. In den deutschen Niederlanden wetteiferte deutsche Kunst und Industrie mit der italienischen in deren glorreichster Blüte. Nach dem gänzlichen Verfalle des deutschen Wesens, nach dem fast gänzlichen Erlöschen der deutschen Nation infolge der unbeschreiblichen Verheerungen des dreißigjährigen Krieges, war es diese innerlichst heimische Welt, aus welcher der deutsche Geist wiedergeboren ward. Deutsche Dichtkunst, deutsche Musik, deutsche Philosophie sind heutzutage hochgeachtet von allen Völkern der Welt: in der Sehnsucht nach »deutscher Herrlichkeit« kann sich der Deutsche aber gewöhnlich noch nichts anderes träumen als etwas der Wiederherstellung des römischen Kaiserreiches Ähnliches, wobei selbst dem gutmütigsten Deutschen ein unverkennbares Herrschergelüst und Verlangen nach Obergewalt über andere Völker ankommt. Er vergißt, wie nachteilig der römische Staatsgedanke bereits auf das Gedeihen der deutschen Völker gewirkt hatte.

Um über die, diesem Gedeihen einzig förderliche, wahrhaft deutsch zu nennende Politik sich klar zu werden, muß man sich vor allem eben die wirkliche Bedeutung und Eigentümlichkeit desjenigen deutschen Wesens, welches wir selbst in der Geschichte einzig mächtig hervortretend fanden, zum richtigen Verständnisse bringen. Um demnach den Boden der Geschichte noch festzuhalten, betrachten wir hierzu etwas näher eine der wichtigsten Epochen des deutschen Volkes, die ungemein aufgeregte Krisis seiner Entwicklung, welche es zur Zeit der sogenannten Reformation zu bestehen hatte.

Die christliche Religion gehört keinem nationalen Volksstamme eigens an: das christliche Dogma wendet sich an die reinmenschliche Natur. Nur insoweit dieser allen Menschen gemeinsame Inhalt von ihm rein aufgefaßt wird, kann ein Volk in Wahrheit sich christlich nennen. Immerhin kann ein Volk aber nur dasjenige vollkommen sich aneignen, was ihm mit seiner angeborenen Empfindung zu erfassen möglich wird, und zwar in der Weise zu erfassen, daß es sich in dem Neuen vollkommen heimisch selbst wiederfindet. Auf dem Gebiete der Ästhetik und des kritisch-philosophischen Urteils läßt es sich fast zur Ersichtlichkeit nachweisen, daß es dem deutschen Geiste bestimmt war, das Fremde, ursprünglich ihm Fernliegende, in höchster objektiver Reinheit der Anschauung zu erfassen und sich anzueignen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die Antike nach ihrer jetzt allgemeinen Weltbedeutung unbekannt geblieben sein würde, wenn der deutsche Geist sie nicht erkannt und erklärt hätte. Der Italiener eignete sich von der Antike an, was er nachahmen und nachbilden konnte; der Franzose eignete sich wieder von dieser Nachbildung an, was seinem nationalen Sinne für Eleganz der Form schmeicheln durfte: erst der Deutsche erkannte sie in ihrer reinmenschlichen Originalität und der Nützlichkeit gänzlich abgewandten, dafür aber der Wiedergebung des Reinmenschlichen einzig förderlichen Bedeutung. Durch das innigste Verständnis der Antike ist der deutsche Geist zu der Fähigkeit gelangt, das Reinmenschliche selbst wiederum in ursprünglicher Freiheit nachzubilden, nämlich, nicht durch die Anwendung einer antiken Form einen bestimmten Stoff darzustellen, sondern durch eine Anwendung der antiken Auffassung der Welt die notwendige neue Form zu bilden. Um dies deutlich zu erkennen, halte man Goethes »Iphigenia« zu der des Euripides. Man kann behaupten, daß der Begriff der Antike erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts besteht, nämlich seit Winckelmann und Lessing.

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