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Paul de Lagarde über Liberalismus, Bildung und die Juden: Deutsche Schriften (1886)

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Menschen und Völker schreiten auf zwei Wegen vorwärts. Entweder so, daß in langsamem Wachsthume sich jedes Höhere aus dem nächst Tieferen, jedes Vollkommenere aus dem nächstweniger Vollkommenen entwickelt, oder aber so, daß, nachdem elementare Gewalt den ungenügenden Zustand der Dinge über den Haufen geworfen hat, in Folge des Unglücks die Betroffenen, welche nunmehr vor dem hellen Tode stehn, sich gezwungen finden, alle ihre Kräfte zur Herstellung eines genügenden Zustandes einzusetzen. Menschen und Völker kommen also zu ihrem Ziele entweder so, wie die Pflanze zu dem Ihren kommt, oder aber wie der Schiffbrüchige zu dem Seinen, der auf einer Planke des zerschellten Schiffes treibt, und einen Fetzen Segel mit der äußersten Anstrengung und dem schärfsten Nachdenken dazu nutzt, daß er ihm zur rettenden Küste zu gelangen helfe.

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Aus dem Gesagten ergibt sich ganz von selbst, daß Deutschland dem verfallen mußte, was ich Liberalismus nenne: daß wohlwollende Menschen mit und ohne amtlichen Auftrag sich bemühten, zu importieren, was im Vaterlande nicht gewachsen war, und doch nothwendig schien. Griechen und Römer, das alte und das neue Testament, die Verfassungen aller möglichen Länder haben dem armen Unstern helfen sollen: daran hat Niemand gedacht, daß nur von unten auf, durch unbedingte Wahrhaftigkeit, unsre Zustände gebessert werden können: nicht durch Kennenlernen der wirklichen oder vermeintlichen Güter Anderer, sondern durch thatsächliche Beseitigung unsrer Mängel und Fehler und durch thatsächlichen Erwerb derjenigen Güter, welche nicht Fremde, sondern wir selbst wirklich brauchen. Keiner Nation nützt irgend welches Gut eines fremden Volkes, weil es ein Gut, sondern nur, weil es Ihr ein Gut ist. Kann doch auch der einzelne Mensch nicht alle Speise essen, die es auf Erden gibt, und soll er doch nur diejenige Speise genießen, welche ihm frommt, und in dem Maße, in welchem sie ihm frommt, weil er sonst seine Fähigkeit zu verdauen, und also zu leben, ganz verlöre.

Der Liberalismus ist durch den Minister Altenstein und seinen Rath Johannes Schulze in die preußischen Schulen eingeführt, und von Preußen aus über ganz Deutschland verbreitet worden. Das ist nicht das kleinste unter den auf unserm Vaterlande lastenden Misgeschicken. Unsere Jugend beherrscht keine Sprache, sie kennt keine Litteratur, sie hat nicht einmal die Hauptwerke unsrer großen Dichter wirklich in Ruhe gelesen und zu verstehn gesucht: aber sie hat die Quintessenz alles dessen was je gewesen ist, in der Form von Urtheilen zugefertigt erhalten, und sie stirbt am Ende ihrer Schulzeit vor Langerweile. Sie ist so überfüttert mit Notizen, so ungeschult in der Auffassung geistiger Vorgänge und schriftstellerischer wie rednerischer Leistungen, daß sie auf der Universität einem freien Vortrage, sei derselbe noch so durchdacht und noch so klar, zu folgen außer Stande ist, und daß ihr deswegen Jahr aus Jahr ein in so gut wie allen systematischen Vorlesungen diktiert wird.

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