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Ein Schneider in einer pommerschen Kleinstadt (1870er Jahre)

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So mußten wir Kinder uns schon im zarten Alter nützlich machen, weil die traurigen Verdienstverhältnisse jener Gegend es eben so mit sich brachten. Gewiß würden meine Eltern uns gerne ein besseres Los verschafft haben, wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Doch der Knüppel lag beim Hund. Was nicht ging, das ging nicht. Resigniert sagte meine Mutter manchmal: »Kinder, ich glaube, wir sind nun einmal zur Armut geboren.«

Wie oft hatte ich mir schon mal ein Paar neuer Stiefel gewünscht, wenn ich sah, wie die Kinder wohlhabender Eltern vergnügt in solchen einherstolzierten. Leider aber blieb das für mich ein frommer Wunsch, der, solange ich zu Hause war, nie in Erfüllung ging. Vom Frühsommer bis in den kalten Spätherbst mußte ich barfuß gehen. Schuhzeug galt dann für »uns Schlag Leute« als ein überflüssiger Luxus. Nur des Sonntags durfte ich Stiefel anziehen, und die waren bei irgendeinem jüdischen Alt-Trödler für höchstens 12 bis 15 Groschen als »abgelegt« gekauft worden; geflickt und verriestert auf allen Ecken und Enden. »Wichst sie nur tüchtig«, meinte Mutter, »dann ist das nicht so zu sehen.« Im Winter lief ich werktägig stets auf Holzpantinen; die Strümpfe waren mit derben Flicken »versohlt«, damit die Stopfwolle gespart wurde.

Mit der Kleidung war es ja etwas besser bestellt. Wenigstens mangelte es nicht an den nötigen Flicken. Wozu wäre mein Vater denn auch Schneider gewesen! Zu einem neuen Anzuge aber reichte es selten. Mit Vergnügen entsinne ich mich noch, wie mir mein Vater aus dem uralten abgetragenen Rock eines verstorbenen Exekutors einen »nagelneuen« blauen Schoßrock zusammengebaut hatte. Stolz wie ein Spanier zog ich als zehnjähriger Knirps mit dem patentwürdigen Garderobestück des Sonntags zur Kirche, woselbst ich im Orgelchor der Stadtschüler mitsingen mußte. Ich ließ es mir auch wenig anfechten, daß mir die Rockschöße um die Waden schlugen und andere Jungen mich deswegen weidlich auslachten. Würdigte mich doch sogar unser alter Kantor wegen des Rockes einer bewundernden Besichtigung, wobei er mit jovialem Lächeln bemerkte, ich sähe jetzt mindestens so fein aus wie Joseph in dem bunten Rock, den ihm der Erzvater Jakob einst gemacht hatte. Mein Vater aber sagte von wegen der langen Schöße und der aufgekrempten Ärmel bedeutsam zu mir, die seien deswegen so »vollkommen« gemacht, damit ich da hineinwachsen könne. Daran ließ sich ja so ungefähr ermessen, wie lange der alte »Wallmusch« noch halten sollte.




Quelle: Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters (orig. 1911), herausgegeben von Urs J. Diederichs and Holger Rüdel. Hamburg: Christians, 1987, S. 5-12.

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