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Ein Schneider in einer pommerschen Kleinstadt (1870er Jahre)

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Ebenso einfach wie des Morgens war unser Speisezettel auch am Mittag. In lieblicher Reihenfolge wechselten da miteinander ab: Kartoffelsuppe, Buttermilch und Kartoffeln, Wrucken und Kartoffeln, Kohl und Kartoffeln, Mohrrüben und Kartoffeln, Kartoffelpuffer in Talg, Kartoffelklöße usw., alles in schönster Kartoffelharmonie. Fleisch gab’s nur ein- bis zweimal in der Woche, und dann auch nur ein »Häppchen«. Am Fleischtage schielte einer nach dem Teller des anderen, ob dieser vielleicht auch »zuviel« erhalten habe, und jeder fischte mit geschäftiger Emsigkeit nach den etwaigen Fettaugen in der Schüssel.

Wie häufig dachte ich da an das hübsche Märchen vom »Tischchen deck dich«. Was hätte ich uns alles für prächtige Speisen herbeizaubern wollen! Mindestens doch dreimal täglich Braten und dicken Reis mit Blaubeersauce. Dem Schlächter hätte ich gewiß alle Würste und dem Konditor rettungslos allen Kuchen aus dem Schaufenster weggezaubert. Denn jedesmal lief mir das Wasser im Munde zusammen, wenn ich vor deren Schaufenstern stand. Leider kam niemand, der mir solch Zaubertischchen verehrte.

Des Abends war das Menu noch einfacher. Im Sommer das hinterpommersche Leibgericht »Klieben und Klamörkens« – ein Gemengsel von Wasser, Mehl und alten Brotkrusten mit etwas Milch angeweißt. Im Winter: einen Abend Kartoffeln und Hering, den andern – Hering und Kartoffeln. Höchstens zwei Heringe auf die Familie. Das zog. Freilich, Athlet konnte man bei solcher Kost nicht werden.

Wie froh war ich mitunter, wenn ich in einem günstigen Augenblick einen kühnen Griff in den Brotschrank tun konnte. Schnell wurde ein Stück Brot abgesäbelt, unter die Jacke gesteckt und draußen an sicherem Orte mit Wohlbehagen verzehrt. Es schmeckte prächtig, wenn’s auch trocken war. Mutter sagte ja immer: »Trocken Brot macht Wangen rot.« Allerdings konnte Mutter es regelmäßig an dem rauhen und schiefen Schnitt des Brotlaibes merken, daß dem edlen Manna wieder jemand eine unerlaubte Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Meistens wurde ich denn auch als derjenige, welcher angesehen und bekam deswegen manchen herzhaften Knuff. Doch das mußte riskiert werden; dafür hatte ich ja auch vorweg meine Entschädigung – im Magen.

Nun darf man jedoch nicht annehmen, daß gerade in unserer Familie eine Ausnahmearmut geherrscht hätte. Durchaus nicht. Nein hundert anderen Familien ging es genau ebenso, ja vielfach noch kümmerlicher. Diese Ernährungsweise bildete dort schon seit Menschengedenken den Normalzustand für die unteren Volksschichten. Man weiß es nicht anders und kennt es nicht anders; man glaubt einfach, das müsse so sein. Es ist eben »hinterpommersch«.

Die Sorge um den Lebensunterhalt hält die Gedanken der ärmeren Familien denn auch sozusagen Tag und Nacht wach. Nahrung und Feuerung, darum dreht sich alles. Zunächst hieß es: Wie beschaffen wir die nötigen Kartoffeln? Kaufen konnte man sie unmöglich alle bei dem geringen Verdienst. Da wurden sie denn bei den Ackerbürgern »ausgepflanzt«.

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