GHDI logo

Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht” sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Konsul Samuel Honaker (12. November und 15. November 1938)

Seite 3 von 7    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Festnahmen und andere Verfolgungshandlungen

Aus verlässlichen Quellen ist zu erfahren, dass praktisch die gesamte männliche jüdische Bevölkerung der Stadt Stuttgart zwischen 18 und 65 Jahren von Personen im Polizeiauftrag festgenommen wurde. In den meisten Fällen erfolgten die Festnahmen durch zwei Polizisten in Zivil. Unter den Verhafteten befanden sich viele bekannte jüdische Geschäftsleute und mehrere Konsule ausländischer Staaten, der namhafteste unter ihnen der dänische Generalkonsul für Württemberg. Alle festgenommenen Personen wurden unverzüglich in die Polizeireviere gebracht und in Zellen gesperrt. Während des 11. Novembers wurden einige der Verhafteten nach Welzheim gebracht, wo sich das wichtigste Konzentrationslager Württembergs befindet. Noch um 10 Uhr am Samstag, den 12. November, wurden Verhaftungen vorgenommen. Es scheint, dass sich unter letzteren Festnahmen größtenteils junge Männer aus ländlichen Regionen befanden, die seither in die Polizeireviere von Stuttgart gebracht wurden.

In verschiedenen Orten Württembergs, namentlich in Rexingen, Buttenhausen und Laupheim, durften Juden seit dem 10. November ihr Heim nicht mehr verlassen. Sie dürfen weder Briefe schreiben noch Post empfangen. Unbestätigten Berichten zufolge geht es so weit, dass diese Personen Schwierigkeiten haben, sich Lebensmittel zu beschaffen, und in manchen Fällen scheinen Bauern ihnen durch die Hintertür ihrer Häuser Essen zugesteckt zu haben.

In Heilbronn wurde am Freitag (11. November) eine Verlautbarung verbreitet, die Juden das Betreten von Kinos verbietet. Am frühen Morgen des 10. November war eine Anzahl festgenommener Juden gezwungen worden, paarweise durch die Straßen von Kehl zu marschieren und dabei im Chor zu rufen: „Wir sind schuldig am Mord in Paris und wir sind Deutschlandverräter.“ Unter ihnen befanden sich ehemalige Frontkämpfer, von denen manche im Großen Krieg Verletzungen davongetragen und Orden erhalten hatten.

Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Berichts scheinen die Festnahmen in den ländlichen Gebieten weniger stark verbreitet gewesen zu sein als in der Stadt Stuttgart. Viele jüdische Männer, von denen einige eine herausragende Stellung in der Geschäftswelt innehaben, sollen am Donnerstag ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben und in der Zwischenzeit verschwunden sein. Ihre Freunde vermuten, dass sie in der Hoffnung, der Sturm möge sich legen und man würde sie nicht weiter belästigen, umherirren. In solchen Fällen, wird berichtet, habe die Polizei Nachricht bei der Familie hinterlassen, dass sich die abgängigen Männer gleich nach ihrer Heimkehr auf dem Polizeirevier zu melden hätten. Natürlich kursieren Gerüchte über viele Suizide, insbesondere von älteren jüdischen Männern, bisher konnten diese jedoch nicht bestätigt werden.

Obwohl der Verfasser mit den Besitzern von Häusern und Wohnungen gesprochen hat, die in anderen Teilen Deutschlands in den vergangenen Tagen verwüstet wurden, gibt es mit Ausnahme von zwei isolierten Fällen in Stuttgart keine Berichte über Angriffe auf von württembergischen Juden bewohnte Privathäuser und –wohnungen. Es ist allerdings bekannt, dass man das weniger als zehn Kilometer von Stuttgart entfernte Jüdische Waisenhaus von Esslingen zwangsevakuiert hat und die Kinder auf die Straße gejagt wurden. Viele Familien, deren Männer verhaftet wurden, sind ohne Geld und werden durch wohlhabendere jüdische Familien unterstützt. Es ist den jüdischen Organisationen nicht möglich gewesen, in den vergangenen Tagen Hilfe zu leisten, da ihre Büros geschlossen und ihr Geld beschlagnahmt wurde.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite