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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Frau Beyme und ich reagierten auf die gleiche Weise – wir waren entsetzt von seiner Geschichte und von der Tatsache, wie kalt er sie erzählte. Ich schlug ihm kühl vor, an das Pentagon zu schreiben.

Dieses Ereignis erneuerte mein Vertrauen zu Frau Beyme (ich nannte sie da schon Marion) und erschwerte es mir, sich nachdrücklich über den Holocaust zu befragen. Trotzdem tat ich es. Aber nichts, was sie sagte, veränderte sich im Lauf der Jahre; es wurde nur deutlicher.

Als wir zum ersten Mal auf dieses Thema kamen, fragte ich sie nach ihrer Reaktion, wenn sie jemanden trifft, der behauptet, nicht gewußt zu haben, »was vor sich ging«. Sie antwortete, daß jeder, der Zeitung las, darüber Bescheid wissen konnte. Ich zitierte eine Frau aus einem Dorf, die gemeint habe, sie hätte weder die Zeit noch das Geld oder die Neigung zum Zeitungslesen gehabt.

»Das muß man ihr schon zugestehen«, sagte sie. »Das kann richtig sein. Und sonst, ich glaube, das ist unterschiedlich. Manchen glaube ich das, denn vieles habe ich selber auch nicht gewußt. Ich habe nie geahnt, daß es so viele Konzentrationslager gibt. Ich hatte gedacht, vielleicht zwei oder drei. Und Einzelheiten über ein KZ habe ich nur durch reinen Zufall erfahren.

Im ›Dritten Reich‹ wohnten wir in einem Doppelhaus. Das gehörte meiner Mutter. Wir wohnten in der einen Hälfte, und in der anderen Hälfte wohnte der Direktor des humanistischen Gymnasiums. Das war ein guter Anti-Nazi, und der hatte viele Freunde, die auch Anti-Nazis waren und in sein Hause kamen. Eines Tages kam ein Freund zu ihm, der aus einem Konzentrationslager entlassen war. Und der hat einiges erzählt. Nicht viel, aber einiges hat er erzählt, und das haben wir dann auch mitgehört. Sonst hätte ich nichts gewußt über Einzelheiten – von all den Grausamkeiten und den ekelhaften Spielen, die man mit ihnen gemacht hat, z.B. wenn es Brot gab. Dann haben die SS-Leute die Stücke Brot, das waren immer so große Brocken, das haben die geschmissen, und die hungrigen Häftlinge mußten die auffangen. Eine ganz demütigende, entwürdigende Sache. Solche Dinge habe ich da gehört.« Sie berichtete, ihr Nachbar habe erzählt, sein Freund müsse lange Zeit in Ketten gelegen haben, da er in einer Haltung stand und schlief, als sei er noch immer gefesselt.

Der Nachbar brachte sich in eine – wie sie es ausdrückte – »gewisse Gefahr«, als er seinen alten Freud bei sich wohnen ließ, und mußte vorsichtig sein, wem er davon erzählte, damit er sie nicht beide gefährdete. Die Nazis hatten es ehemaligen Häftlingen verboten, über ihre Lagererfahrungen zu sprechen. Doch nach Meinung von Frau Beyme war der Nachbar auch nicht ganz und gar ein guter Mensch. »Er war ein sehr kultivierter Mann, der gerne auch ein bißchen seriös aß und lebte.« Er vermißte das gute Leben der Vorkriegszeit. Als er eingezogen wurde zu »irgend so einer Transportstelle in Frankreich«, bediente er sich ungeniert. »Ich habe mich eigentlich über ihn geärgert. Der hat wahnsinnig viele Sachen aus Frankreich hierher geschickt, Unmengen von Tabak und von Fleischdosen und alles so was, und einen schönen jüdischen Leuchter. Das fanden wir gar nicht schön. Die hatten so viel, daß sie uns gebeten haben, ob wir in unserem Keller etwas unterstellen konnten.«

Sie sagte, er habe die Sachen wohl nicht gestohlen, aber eine furchtbare Situation ausgenutzt. »Vielleicht konnte man billig kaufen von den armen Juden, ich weiß nicht, aber ich hätte keinen jüdischen Leuchter kaufen können, auch wenn ich ihn für fünf Pfennig gekriegt hätte. Weil man sich die Geschichte dazu denken kann, nicht? Er war kein Judengegner, und insofern kann man vielleicht sagen, bei ihm war das noch gut aufgehoben, und er hat darauf geachtet und es schön gefunden und wußte, was für eine Geschichte daran hängt . . . konnte man sagen.«

Sie konnte es nicht. Doch wenn sie ihn nicht gekannt hätte, so ihr Einwand, hätte sie keinerlei Einzelheiten über die Lager gewußt. »Deswegen kann ich vielen Leuten glauben, daß sie nichts oder nur wenig gewußt haben.«

Herr Beyme, der zu diesem Zeitpunkt bei uns saß, erzählte eine Begebenheit, die die Aussage seiner Frau bestätigte. Er sagte, während des Krieges hätten er und ein paar Soldaten etwas über eine gesperrte Straße bei Weimar herausfinden wollen – nahe des Konzentrationlagers Buchenwald. Sie seien noch nicht einmal an die Sperre herangekommen, als bewaffnete SS-Wachposten sie nachdrücklichst fortgeschickt hätten. Und wenn uniformierte deutsche Soldaten nicht herausfinden konnten, was vor sich ging, fragte er, wie hätte dann die deutsche Öffentlichkeit können sollen?

Eine Möglichkeit waren Gerüchte, die sogenannte Flüsterpropaganda. Ich fragte Frau Beyme danach. »Die gab es ganz gewiß nicht so häufig. Das hatte es sicher gegeben, doch diese Flüsterpropaganda ist sicher an vielen vorbeigegangen. Es wurde auch nicht gewagt, so was zu sagen. Da mußte man ja Angst haben, wenn man es jemandem erzählt, den man nicht gut kennt. Was er damit macht, mit diesen Nachrichten. Ob er einen sofort anzeigt und sagt, die ist defätistisch, die verhindert unseren Sieg.«

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