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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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»Meine Mutter aß sehr gern Schokolade und ging hier in so ein feines kleines Geschäft, wo es die schönste Schokolade gab. Und da merkte man sehr bald im Gespräch, daß die Nazis waren. Nun sind wir dann nicht mehr hingegangen. In gewisser Weise war das nicht so einfach, weil sie diese Schokolade so gern gehabt hatte, aber sie ist nicht mehr hingegangen. Das sind so Kleinigkeiten, die man tun konnte. Das ist eigentlich nur, daß man etwas gelassen hat, aber man hat nichts aktiv getan. Das eigentlich nicht.«

Als ich über das »nichts aktiv« nachdachte, fragte ich, was mit der Familie passiert sei, der der Haushaltswarenladen gehörte, Frau Beyme antwortete sehr langsam: »Die sind weggekommen, aber ich glaube – die sind noch rechtzeitig ausgewandert. Die sind nach [sic] USA –von denen habe ich nicht gehört, daß sie umgekommen sind.« Genaueres über einzelne Schicksale habe man generell erst nach dem Krieg erfahren, wenn Überlebende an alte Freunde schrieben. »Und das hat sich herumgesprochen, wer noch lebt und wer nicht mehr lebt. Aber es hat Jahre gedauert, bis man das wußte.«

Einiges von dem, was in ihrer Heimatstadt geschah, erlebte sie jedoch selbst mit. »Einmal sah ich zu meinem Entsetzen – ja, wer mag das sein? Ein Rechtsanwalt, der plötzlich Straßenarbeiten machte. Ich sah plötzlich jemanden, der die Schienen von der Straßenbahn rausmachen mußte. Der hatte so einen tiefen Graben gemacht, wo er drinstand, er hatte das aufgehackt. Sah ich plötzlich jemand, den ich sonst als feineren Herrn auf der Straße gesehen hatte.«

Die Nazis hatten es auch auf eine Freundin von Marion abgesehen, »eine ungeheuer beliebte Gymnastiklehrerin. Die hatte derartig viele Schüler. Sie war auch sehr musikalisch und hatte immer sehr schöne Klavierbegleitung zu ihrer Gymnastik gemacht, ganz besonders schön. Und die stellte ein Köfferchen auf den Flügel, das schmiß man nur so sein Geld rein für den Gymnastikkurs; sie hat überprüft, ob alle bezahlt haben. Das waren so viele, das konnte sie gar nicht. Sie war so beliebt. Und dann plötzlich hieß es, die ist ja ›Halbjüdin‹, und sie durfte keinen Unterricht mehr geben. Von einem Tag auf den anderen.

Da war hier eine andere Gymnastiklehrerin, die war an der Schule angestellt, und das war eine Nazi, die hat das bekanntgemacht. Und dann ist meine Freundin – sie war da schon verheiratet, mit einem Juristen – dann ist sie nach Berlin gegangen und hat sich sozusagen versteckt. Das kann man besser in einer großen Stadt. Sie hatte zwei kleine Töchter. Da haben sie mitten in Berlin in so einer Mietwohnung gewohnt. Ich habe sie öfter besucht, und da hat sie mir und einer Freundin noch Gymnastikstunden gegeben, in dem Zimmer. Und der Mann kam dann nachher zur Strafe, daß er eine ›Halbjüdin‹ geheiratet hat, zur Waffen-SS, auf ein – wie man dann sagte – ein Himmelfahrtskommando, wo man damit rechnen muß, daß man nicht wiederkommt. Aber er ist wiedergekommen.«

Ich fragte, ob er sonst einer der Soldaten der Waffen-SS hätte sein können, die auf dem Friedhof in Bitburg begraben sind. Sie bejahte.

In Marburg war die Stimmung damals ausgesprochen hitlerfreundlich. Frau Beyme sagte, in ihrer eigenen Nachbarschaft seien wohl neunzig Prozent für ihn und zehn Prozent gegen ihn gewesen. »Nur nichts laut auf der Straße sagen. Und es hieß ja immer ›der deutsche Blick‹.« Sie demonstrierte es, in dem sie erst hinter uns und dann zu jeder Seite schaute, ehe sie weitersprach. Gegenüber Leuten, deren politische Richtung man nicht kannte, verhielt man sich abwartend und vorsichtig. »Wenn sie Hitler mochten, merkte man das sehr schnell. Ich habe zum Beispiel eine aus meiner früheren Schulklasse auf der Straße getroffen und merkte sofort, das ist so einen [sic] Nazi geworden. Wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen.« Sie sagte, die Klassenkameradin habe sie nicht mit »Heil Hitler« begrüßt, obwohl das vorgeschrieben gewesen sei. »Das haben Frauen auf der Straße nicht gemacht. Aber so mit Begeisterung vom Krieg gesprochen, ›Jetzt haben wir wieder den großen Sieg‹ oder ›Meine Söhne sind auch dabei; ich bin stolz‹ oder so was.

Gemerkt hat man natürlich von allem, wer das war. Die sagten das laut, und die handelten so. Denen sahst du das an Abzeichen oder der Uniform schon an. Die Gegner waren natürlich viel leiser oder stiller und versteckter. Es ist schwer zu sagen, wieviele Gegner es waren. Die Anhänger waren sicher in der Überzahl, das ist klar.« Zu den Anhängern zählte sie auch »Mitläufer und die, die das ruhig hinnahmen und sich nicht dagegen empört haben.«

Einmal jedoch spürte sie die Anziehungskraft des Nazi-Phänomens noch ganz deutlich. Sie war gerade an einem Tag in Hannover, als Hitler sich dort zu einer Paradeveranstaltung aufhielt. Und sie stand genau dort, wo der Autokonvoi der Nazis vorbeifuhr. Aus einem offenen Wagen heraus winkte Hitler der wild jubelnden Masse zu. »Ich habe doch gemerkt, obgleich ich dagegen war, wie so eine Menschenmenge, die so begeistert schreit und die Hände hebt und Blumen schmeißt, daß – daß man in Gefahr ist, daß man da mitgerissen wird. Das ist ganz gefährlich, in so einer Menschenmenge zu stehen. Irgendwie ist das was Faszinierendes, so eine begeisterte Menge. Die ist so begeistert, daß sie dich anstekken [sic] kann. Manchmal denkt man, mein Gott, solltest du Unrecht haben, und alle haben Recht? Man wird mal etwas unsicher.«

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