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Benedikt Kautskys Beschreibung der Konzentrationslagerhierarchie (Rückblick, 1961)

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Muselmann

Ich bin nicht imstande zu erklären, warum man in Auschwitz diesen Namen gewählt hat, ebensowenig, warum die Angehörigen des allerdings nicht so ausgeprägten und viel weniger zahlreichen Typs in Buchenwald als «müde Scheichs» bezeichnet wurden, bis sich auch in Buchenwald der Auschwitzer Ausdruck durchsetzte.

Der Muselmann war die unterste Stufe, auf die der Häftling sinken konnte. Grauenhaft war der Anblick des täglichen Aus- und Einmarsches in Auschwitz, wo sich Tausende solcher Elendsgestalten schon am Morgen mühselig zur Arbeit schleppten, um am Abend vielfach nach Hause geschleppt zu werden. Müde, hungrig, verdrossen, zerlumpt und dreckig — so sah man die Masse an dem feisten Lagerältesten vorbeimarschieren, der geschniegelt und gebügelt, nach guter Seife — aus «Canada» — duftend, satt und mit sich zufrieden die Parade abnahm, jederzeit in gleicher Weise bereit, gnädige Worte fallen zu lassen und den Vater des Lagers zu mimen wie auch die brutalsten Stöße und Tritte auszuteilen, wenn ein armseliges Menschenwrack seinen Ekel erregte. Er war, wie in Auschwitz fast überflüssig ist zu betonen, ein Grüner. Der reichste, der mächtigste Finanzmagnat oder Staatsmann eines demokratischen Staates stand nicht so hoch über dem Arbeitslosen, der ohne Cent in der Tasche, mit einer Zeitung zugedeckt auf einer Bank im Freien schlafen mußte und vielleicht seit Tagen nichts gegessen hatte, wie er über dem Muselmann. Denn die Reichen und Mächtigen konnten den Armen verhungern und verrecken, sie konnten ihn der Freiheit berauben lassen, sie konnten, während er im Elend verkam, alles genießen, was ihnen einfiel — der Lagerälteste von Auschwitz-Buna konnte das alles auch — und er konnte noch mehr: Er hatte zu essen und zu trinken, was sein Herz begehrte, für ihn wurde eigens gekocht, und was die Lagerküche nicht hatte, lieferte «Canada» oder die schwarze Börse von Buna. Kleider, Wäsche, Schuhe — so viel und so schön er wollte, denn wozu starben die Juden in den Birkenauer Gaskammern? Frauen — das Lagerbordell oder die Tausenden von Mädchen auf Buna, lieferten jedes gewünschte Material. Kunst — die Lagerkapelle mit erstklassigen Kräften — Konzertmeister der Berliner Staatsoper, Absolventen des Wiener Konservatoriums — stand ihm zur Verfügung, Maler und Zeichner erfüllten jeden Wunsch, als Bauherr konnte er sich in seinem Bereich ausleben wie Hitler, und Leibdichter lieferte das Lager in jeder gewünschten Qualität, für den Ober- wie für den Unterleib. Daß eine eigene Schauspieltruppe zu seiner Verfügung stand, ist ebenso selbstverständlich, wie daß man ihm alle Bücher verschafft hätte, wenn er den Wunsch danach geäußert hätte. Für seine wirklichen und eingebildeten Krankheiten standen Spezialisten aus allen Ländern zur Verfügung — ein polnischer Chirurg, ein französischer Internist, ein ungarischer Augen-, ein deutscher Ohrenarzt. Er konnte sich zwar nur in einem beschränkten Bereich — jedoch nicht nur im Lager — und natürlich unter Aufsicht bewegen, aber seine Begleitung wird ihn kaum mehr beengt haben als die überwachenden Detektive den Millionär oder Politiker. Was dieser aber nicht konnte, vermochte er und tat er auch: wenn ihn die Lust anwandelte — und das geschah nicht selten — so konnte er seine sadistischen Triebe abreagieren und Menschen prügeln und erschlagen, ohne Hemmung, ohne Furcht vor Strafe, bis zur völligen Befriedigung seiner Lust.

Und wenn man einwenden sollte, daß der Lagerälteste als Häftling eben doch von der SS abhängig war und von ihr gestürzt werden konnte — nun, von irgend jemand ist auch der mächtigste Diktator abhängig, und die Auschwitzer Lagerältesten, die ich stürzen sah, fielen sehr weich im Vergleich zu andern Diktatoren. Sie verschwanden in ein Nebenlager, und wenn sie dort auch nicht die gleiche Rolle spielten, so gehörten sie als Angehörige der deutschen Herrenrasse eben doch zur Prominenz.

Ein Konzentrationslager war in Wirklichkeit eine Welt — voll von Gegensätzen und von Abgründen, mit einer zwar schwankenden, aber jeden Augenblick genau feststellbaren Hierarchie, in der jeder seinen Rang einnahm. Er konnte steigen oder fallen, je nach Glück und Begabung, aber im gegebenen Zeitpunkt hatte er den ihm zukommenden Platz einzunehmen und den der andern zu respektieren.



Quelle: Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkentnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern. Wien, 1961, S. 160-69.

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