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Benedikt Kautskys Beschreibung der Konzentrationslagerhierarchie (Rückblick, 1961)

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Gegen diesen Gedankengang kann man logisch kaum etwas einwenden. Jedoch — wer beurteilte die Fähigkeit und vor allem die Würdigkeit der in Betracht Kommenden? In Wirklichkeit war Jugend kein unbedingter Vorzug, nicht einmal in körperlicher, geschweige in moralischer Beziehung. Nach meiner Erfahrung hatten Menschen mittleren Alters mit gesunder Konstitution und gefestigten Nerven, mit abgerundeter Lebenserfahrung und starken Bindungen an Frau und Kinder viel bessere Aussicht durchzuhalten als körperlich kräftigere Jünglinge, deren Nervensystem ebensowenig gefestigt war wie ihre moralischen Anschauungen, und die nichts an das normale Leben in der Freiheit band.

Die Lageranschauung: «Alter, du hast genug gelebt — wir Jungen wollen nachher auch noch was vom Leben haben!» klang viel logischer, als sie war, und wenn man gar berücksichtigt, daß die Auswahl unter den Häftlingen in die Hand von Menschen gelegt war, die nach persönlichen Zuneigungen — oft der niedrigsten Art — und aus materiellen Gründen urteilten, so kann man sich leicht ausrechnen, welches Zerrbild einer «Auswahl der Geeignetsten» sich da ergeben mußte.

Damit ist es zu erklären, daß die verschiedenartigsten Menschen das Lager überlebt haben, wertvolle Politische ebensowohl wie Abschaum und Nichtigkeiten. Zufall und Willkür spielten in dieser Beziehung wie in jeder anderen die Hauptrolle.

Die Hauptmasse der Unterschicht bestand vor dem Krieg aus den Juden und den gering gewerteten Gruppen der Deutschen, vorwiegend der Schwarzen, wobei naturgemäß die Hauptlast der schweren und verächtlichen Arbeiten auf die Schultern der Juden gewälzt wurde. Diese blieben auch während des Krieges die Parias der Lager, während an die Stelle der minder geachteten Deutschen Ausländer traten, vor allem jene Nationen, die zahlreich vertreten und infolge Unkenntnis der deutschen Sprache eine geringe Rolle in der Lagerautonomie spielten. «Vitamin B», wie man die «Beziehungen» in Hitler-Deutschland nannte, war eben auch im Lager lebenswichtig, und der Mangel daran war für Russen, Polen und Franzosen äußerst nachteilig. Im übrigen hing es von mancherlei Umständen ab, welche Nationen der einzelnen Lager zu den untersten Schichten gehörten.

Kombiniert man die Tatsache, daß Juden und große Gruppen der Ausländer die schwersten Arbeiten zu verrichten hatten, mit der weiteren, daß ihnen die geringsten Rationen zugeteilt wurden, daß sie am meisten der Gefahr des organisierten Bestohlenwerdens ausgesetzt waren und daß sie in den schlechtesten Unterkünften wohnen mußten, so wird einem die Kluft zwischen der Prominenz und diesen Unglückseligen klar. In der gleichen Zeit, da die Juden und Ausländer in den Notunterkünften binnen vier bis sechs Monaten ausstarben, war die Sterblichkeit in der Oberschicht gleich Null, in der Mittelschicht kaum über dem Durchschnitt der für diese Altersklassen üblichen.

Schon in wenigen Wochen erzeugten Hunger, Überarbeitung und das Hausen unter den unmöglichen Bedingungen innerhalb der Unterschicht einen eigenen Typ, den:

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