GHDI logo

Ausbau des Sozialstaates (24. September 1973)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Dennoch muß man gerade vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Tätigkeit in der vergangenen Woche fragen, ob nicht gleichwohl Grenzen erreicht sind. Diese Frage gilt allerdings nicht dem Verständnis vom sozialen Rechtsstaat, sondern der Finanzierung, besser: der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung. Es fällt auf, daß in der Auseinandersetzung über die Tarifpolitik immer wieder die Schmälerung der Realeinkommen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge geltend gemacht wird. Natürlich ist es für den einzelnen Arbeitnehmer ärgerlich, wenn sein Nominaleinkommen in einen Bereich des Steuertarifs hineinwächst, in dem der Anteil des „Weggesteuerten" ständig zunimmt, ohne daß der einzelne Steuerpflichtige eine entsprechend zunehmende Gegenleistung des Staates erwarten kann. Aber warum wird es in gleicher Weise ärgerlich empfunden, daß die Sozialversicherungsbeiträge steigen? Zählt denn nicht mehr, daß in der Rentenversicherung entsprechende persönliche Ansprüche entstehen? Wird verkannt, daß man einen ausgezeichneten Krankenversicherungsschutz (einschließlich Vorsorgeleistungen) eben teuer bezahlen muß, vor allem, wenn man ihn aus guten und manchmal auch weniger guten Gründen erheblich ausnutzt? Es sieht so aus, als ob viele Arbeitnehmer erstmals anfangen, sich nicht nur für das zu interessieren, was „unter dem Strich" steht, sondern auch für die Sozialversicherungsabzüge und die Gegenleistung.

Diese Abkehr vom jahrelangen „Netto-Denken" könnte und sollte Anlaß sein, die soziale Sicherung in allen Bereichen unter dem Blickwinkel strikter Rationalität und Zweckmäßigkeit zu betreiben. Es handelt sich heute nicht mehr darum, dem Bürger etwas zu nehmen, sondern darum, ihm für Steuern und Beiträge möglichst viel Sinnvolles zu geben. Das gilt vor allem in der Krankenversicherung und bei der Wiedereingliederung (Rehabilitation). So betrachtet, ist es gut, daß endlich Grenzen der Finanzierbarkeit sichtbar — und erkannt werden.



Quelle: Hans-Ulrich Spree, „Sozialpolitik ohne Stillstand“, Süddeutsche Zeitung, 24. September 1973.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite