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Demokratiedefizit (5. Juni 1989)

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Es war der Franzose Jacques Delors, für Kanzler Kohl „ein Europäer mit ungeheurem Hintergrund, ein Mann mit Visionen und Engagement", der die lähmende Eurosklerose beendete. Indem er seinen Beamten ein neues Sendungs- und Selbstbewußtsein vermittelte, festigte er freilich auch die ohnehin schon allumfassende Herrschaft der Bürokratie.

Er brachte die hoch frustrierten, hochbezahlten Bürokraten in der Kommission in Schwung und beendete abrupt den Schlendrian der EG-Behörde. Er preßte die Landwirtschaftsminister zu kräftigen Einschnitten bei den Preis- und Abnahmegarantien für die Agrarprodukte. Und er überredete die Regierungschefs der zwölf Mitgliedstaaten zu einem neuen Finanzierungskonzept der Gemeinschaft, um den ewig defizitären Haushalt zu sanieren.

Sein größtes Verdienst aber war es, der Wirtschaftsgemeinschaft wieder den Sinn für politisches Geschäft gegeben zu haben, das schon ihre Gründungsväter 1955 inspiriert hatte: die Vision von einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zusammengehörenden Europa ohne innere Grenzen.

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Anders als die Bundesregierung, die die Brüsseler Kommission seit jeher als Endlagerungsstätte für abgeschlaffte Politiker und zweifelhafte Bürokraten nutzte, legte die französische Regierung stets Wert darauf, möglichst qualifiziertes Personal in die EG-Zentrale zu entsenden. Schließlich gibt es in der europäischen Zentrale nationale Interessen zu verteidigen.

Auch die Briten betreiben eine gezielte Personalpolitik und besetzen mit Vorliebe einflußreiche Positionen in den Forschungsabteilungen, wo sich inzwischen Englisch als Amtssprache durchgesetzt hat.

Griechenland und Luxemburg lösten ihre schwachen Kommissare ab, schickten mit dem Karriere-Diplomaten Jean Dondelinger und der Industrieministerin Vasso Papandreou – so die Einschätzung in der Kommission – „erstklassige Profis".

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Quelle: „In Brüssel vordemokratische Zustände“, Der Spiegel, 5. Juni 1989, S. 136-41.

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