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Demokratiedefizit (5. Juni 1989)

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Nicht die am 18. Juni gewählten Volksvertreter aus rund 160 Parteien, nicht mal die großmächtigen Staats- und Regierungschefs, die ihre viel zu zahlreichen Gipfel zelebrieren. Vielmehr prägen Tausendschaften von Beamten aus den Nationalstaaten wie aus der Europa-Metropole Brüssel das Gesicht des künftigen Europa, setzen europäisches Recht. Richtlinien und Verordnungen werden von Beamten vorgeschlagen, von Beamten verhandelt, von Beamten entschieden: das neue Europa in den Händen einer der ältesten Mächte des alten Kontinents – der Bürokratie.

Die Brüsseler EG-Kommission mit ihren 17 Kommissaren und 22 Generaldirektoren ist die einzige Behörde der westlichen Welt, die das Recht zur Gesetzesinitiative hat, ohne dazu demokratisch legitimiert zu sein. Der Ministerrat, das oberste Entscheidungsorgan der Gemeinschaft, gibt nur allgemeine Leitlinien oder Rahmenbedingungen vor – der Vollzug im Detail liegt bei den Eurokraten.

Wenn die Fachminister aus den zwölf Hauptstädten im Brüsseler Ratsgebäude Charlemagne über eine neue Direktive abstimmen, dann geht es ihnen meist wie der ehemaligen Bonner Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Sie fühlte sich in der EG-Hauptstadt degradiert – zur „Sprechmaschine wohlmeinender Beamter".

Von links flüsterte der stellvertretende deutsche EG-Botschafter auf sie ein, von rechts soufflierte ihr ein hochrangiger Fachbeamter. Hinter sich wußte sie mindestens vier Ministeriale, jederzeit auf dem Sprung, ihr die komplizierten Sachverhalte zu erläutern und mit taktischen Ratschlägen zu dienen. Auf dem Tisch die schriftlichen Regieanweisungen, ihr Sprechzettel, der nicht nur den Verlauf der Sitzung vorschrieb, sondern sie auch präzise anwies, zu welchem Punkt der Tagesordnung sie was zu sagen hatte.

Demokratische Kontrolle findet in diesem imposanten Verbund der westeuropäischen Demokratien nicht statt. Die Europaparlamentarier dürfen zwar ihre Meinung zu einer neuen Richtlinie kundtun. Doch weder Rat noch Kommission sind verpflichtet, das parlamentarische Mehrheitsvotum auch zu berücksichtigen.

Zu jenen Büros, in denen die Gemeinschaft ihre für alle bindenden Richtlinien und Verordnungen erläßt, etwa über Umweltnormen und Sicherheitsstandards, über die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomen oder die Harmonisierung der Steuern, haben die Abgeordneten keinen Zutritt.

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