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Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas über die Bedeutung einer kritischen Erinnerung (7. November 1986)

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Drei Quellen des Unbehagens

Zunächst spielen Situationsdeutungen neokonservativer Herkunft eine Rolle. Nach dieser Lesart verstellt die moralisierende Abwehr der jüngsten Vorvergangenheit den freien Blick auf die tausendjährige Geschichte vor 1933. Ohne Erinnerung an diese unter »Denkverbot« geratene nationale Geschichte könne sich ein positives Selbstbild nicht herstellen. Ohne kollektive Identität schwänden die Kräfte der sozialen Integration. Der beklagte ‚Geschichtsverlust’ soll gar zur Legitimationsschwäche des politischen Systems beitragen, nach innen den Frieden, nach außen die Berechenbarkeit gefährden. Damit wird dann die kompensatorische ‚Sinnstiftung’ begründet, mit der die Geschichtsschreibung die vom Modernisierungsprozeß Entwurzelten bedienen soll. Der identifikatorische Zugriff auf die nationale Geschichte verlangt aber eine Relativierung des Stellenwerts der negativ besetzten NS-Zeit; für diesen Zweck genügt es nicht mehr, die Periode auszuklammern, sie muß in ihrer belastenden Bedeutung eingeebnet werden.

Für einen verharmlosenden Revisionismus gibt es zweitens, und ganz unabhängig von funktionalistischen Erwägungen à la Stürmer, ein tieferliegendes Motiv. Darüber kann ich, da ich kein Sozialpsychologe bin, nur Vermutungen anstellen. Edith Jacobson hat einmal sehr eindringlich die psychoanalytische Einsicht entwickelt, daß das heranwachsende Kind lernen muß, die Erfahrungen mit der liebenden und gewährenden Mutter nach und nach mit jenen Erfahrungen zu verknüpfen, die aus dem Umgang mit der sich versagenden, sich entziehenden Mutter stammen. Offenbar ist es ein langer und schmerzhafter Prozeß, in dem wir lernen, die zunächst konkurrierenden Bilder von den guten und den bösen Eltern zu komplexen Bildern derselben Person zusammenzusetzen. [ . . . ] So sind es keineswegs die moralisch Unsensiblen, die sich gedrängt fühlen, jenes kollektive Schicksal, in das die Nächsten verstrickt waren, vom Makel ungewöhnlicher moralischer Hypotheken zu befreien.

Wiederum auf einer anderen Ebene liegt das dritte Motiv – der Kampf um die Wiedergewinnung belasteter Traditionen. Solange der aneignende Blick auf die Ambivalenzen gerichtet ist, die sich dem Nachgeborenen aus der Kenntnis des historischen Verlaufs ohne eigenes Verdienst zu erkennen geben, läßt sich auch Vorbildliches von der retroaktiven Gewalt einer korrumpierten Wirkungsgeschichte nicht freihalten. Nach 1945 lesen wir eben Carl Schmitt und Heidegger und Hans Freyer, selbst Ernst Jünger anders als vor 1933. Das ist manchmal schwer erträglich, zumal für meine Generation, die – nach dem Kriege, in der langen Latenzperiode bis Ende der 50er Jahre – unter dem intellektuellen Einfluß überragender Figuren dieser Art gestanden hat. Das mag, nebenbei, jene anhaltenden Rehabilitationsbemühungen erklären, die – nicht nur in der FAZ – so inständig aufs jungkonservative Erbe verwendet werden.

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