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Bundespräsident Richard von Weizsäcker über „Deutsch-Sein” (1986)

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IV.

Was ist, unter dem Aspekt der Sprache betrachtet, deutsch? Wir haben uns darauf verständigt, die deutsche Hochsprache als deutsch zu bezeichnen. Sie ist eigentlich eine Mischung aus verschiedenen Sprachen, deren Elemente die sächsischen Hofkanzleien zu einer neuen Kunstsprache vereinigt hatten. Martin Luther erfüllte sie mit lebendigem Leben. Wir haben uns angewöhnt, das Friesische, das Alemannische, das Bayerische, das Hessische und andere als deutsche Dialekte zu betrachten. Diese Dialekte sind aber eigentlich die ursprünglichen deutschen Sprachen.

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V.

Eine wesentliche und besonders schwierige Rolle spielt bei einer Definition die Geographie. Was ist deutsches Land? Wenn man in einem historischen Atlas Europas blättert, findet man nahezu auf jeder Seite ein anderes Reichsgebiet, welches je nach der Einstellung ganz oder teilweise als deutsch bezeichnet wird.

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VI.

Inmitten einer verwirrenden Fülle, die uns begegnet, wenn wir Sprache, Geographie und Geschichte zu Rate ziehen, um zu erfahren, was deutsch ist, gibt es auch den Versuch, bleibende Grundelemente eines deutschen Volkscharakters zu finden. Otto Bauer hat die Nation als eine »aus Schicksalsgemeinschaft erwachsene Charaktergemeinschaft« beschrieben. Was das Schicksal ausmacht und ob es Ursache oder Folge eines deutschen Charakters ist, mag dahinstehen. Die Frage nach dem Charakter ist jedenfalls oft und mit ebenso vielfältigen wie interessanten Ergebnissen gestellt worden. Nach Tacitus waren die Germanen von reinen Sitten, gastfreundlich, stolz, tapfer und edel. In der Zeit der Völkerwanderung wurden die Germanen als wild und grausam geschildert, eine geschichtliche Erinnerung, die sich bis heute mit dem germanischen Volksstamm der Vandalen verbindet.

Die deutsche Klassik wollte uns zum Volk der Dichter und Denker läutern. Zur Zeit des Biedermeier galt politisch machtlose Krähwinkelei als ein deutsches Charakteristikum. Einmal empfand man Leidenschaft und Kraft des »Sturm und Drang« als typisch deutsch, ein anderes Mal die in sich schwingenden Lieder der Seele und der Natur von Eichendorff. Einmal wird unsere besondere Begabung in der Musik gesehen, ein anderes Mal unsere angeblich besondere Fähigkeit zu Fleiß und Disziplin, verwendbar zum Guten wie auch zum sehr Bösen. Die einen sprechen uns die Fähigkeit zur Eleganz ab und attestieren uns lieber den derben Witz von Hans Sachs, während andere gerade in der geschliffenen Sprache Lessings, Heines oder Nietzsches deutschen Geist ausmachen.

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