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Bundespräsident Richard von Weizsäcker über „Deutsch-Sein” (1986)

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I.

Diese Auseinandersetzung ist für uns Deutsche in der heutigen Zeit schwer. Die Geschichte des Deutschen Reiches in diesem Jahrhundert und die im deutschen Namen begangenen Untaten haben den Begriff deutsch verunstaltet und schließlich Deutschland geteilt. Viele meinen, daß wir Deutsche in eine Identitätskrise geraten seien. Wenn man von einem Menschen sagt, er habe seine Identität verloren, dann meint man damit, er sei krank. Sind wir Deutsche in diesem Sinne krank? Haben wir die Orientierung für unsere Geschichte und unser Wesen verloren? Wissen wir nicht mehr, wer oder was wir sind?

Davon kann nach meiner Überzeugung keine Rede sein. Wir haben unsere Merkmale, die uns von anderen Völkern unterscheiden. Wir finden sie in unserer Geschichte und geographischen Lage, unserer Sprache und Kultur, in der geistigen Kraft und der Staatlichkeit, der sozialen Struktur und der wirtschaftlichen Leistung der beiden deutschen Staaten, in den Beziehungen zu Nachbarn und anderen Völkern. Das Erbe unserer Geschichte hat uns helle und dunkle Kapitel überantwortet. Es enthebt uns nicht der Aufgabe und beraubt uns nicht der Fähigkeit, uns mit diesen Merkmalen auseinanderzusetzen. Wir sind Menschen wie andere auch.

II.

[ . . . ]

Der Nationalismus blieb in allen europäischen Staaten bestehen. In Deutschland staute er sich [ . . . ] an und nahm auf dem Boden einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Not extreme Formen an. Hitler erhob die deutsche Nation zum obersten aller Werte. Er sprach ihr das Recht zu, die Welt zu beherrschen, nur weil sie die deutsche war. Diesen furchtbaren Unsinn suchten er und seine Anhänger historisch und biologisch zu untermauern. Sie schrieben die Geschichte um, radikaler als jemals zuvor. Die Erklärung für die einmalige Besonderheit der deutschen Nation wurde in der Natur gesucht, in der deutsch-germanischen Rasse. Ihr wurde das Recht zugesprochen, andere Rassen als minderwertig abzuqualifizieren, ja ein ganzes Volk, die Juden, aus rassischen Gründen physisch auszurotten. Konsequenz dieser grauenvollen Anschauungen war der Krieg mit der halben Welt. Im besetzten Gebiet wurden Juden und andere zusammengetrieben und ermordet. Der Völkermord nahm seinen Lauf. Dies alles geschah ausdrücklich im deutschen Namen.

Deutschland wurde zerstört, besiegt, besetzt und geteilt. Das Wort deutsch, was bedeutet es danach?

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