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Robert Havemanns „zehn Thesen” zum dreißigsten Jahrestag der Gründung der DDR (1. September 1979)

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6. Es ist ganz offensichtlich, daß alle diese Repressionen und Freiheitsbeschränkungen das Gegenteil dessen bewirken, was mit ihnen erreicht werden soll. Sie sollen der Sicherheit des Staates dienen, sind aber tatsächlich die Hauptursachen der zunehmenden Staatsunsicherheit. Unter solchen Bedingungen muß schließlich auch der letzte Rest des Vertrauens zwischen Bürgern und Staat dahinschwinden, und zwar von beiden Seiten. „Schenkst Du kein Vertrauen, so findest Du kein Vertrauen“, heißt es bei dem chinesischen Weisen Lao Tse, der vor zweieinhalb Jahrtausenden lebte. Vertrauen der Bürger zu ihrem Staat ist aber das wertvollste politische Gut. Auf ihm beruht nicht nur seine innere, sondern auch seine äußere Sicherheit, ohne die kein Staat auf die Dauer leben kann. Denn vom Vertrauen seiner Bürger hängt auch das Vertrauen ab, das befreundete und verbündete Staaten ihm entgegenbringen.

7. Das politische System, das in der DDR wie auch in einigen osteuropäischen Staaten besteht, bezeichnet sich selbst als „realen Sozialismus“. Damit will man sagen, daß es einen „idealen Sozialismus“ nur in den Träumen sektiererischer Utopisten gibt, nicht aber in der Wirklichkeit. Wer sich diesen Träumen hingibt und auf diese Weise seine Unzufriedenheit mit dem real existierenden Sozialismus zum Ausdruck bringt, heißt es, hilft nur den Gegnern des Sozialismus. Aber in der Geringschätzung und Verdächtigung der Träume von einem idealen Sozialismus sind sich gerade die Gegner und Feinde des Sozialismus mit den Ideologen des realen Sozialismus völlig einig. Sie lachen über die Einfältigen, die glauben, Sozialismus sei möglich ohne Unterdrückung der Andersdenkenden, ohne Polizeisystem und Mauer. Entweder Freiheit oder Sozialismus, sagen sie, aber niemals beides zugleich. Und ihr Beweis für diese Behauptung ist der reale Sozialismus.

8. Die Kommunistischen Parteien in Westeuropa, die eine neue politische Linie entwickelt haben, die man den Eurokommunismus nennt, befinden sich angesichts der sich verschärfenden Spannungen in den Ländern des realen Sozialismus, besonders nach der gewaltsamen Beendigung des „Prager Frühlings“ im Jahre 1968, in einer schwierigen Lage. Einerseits müssen sie glaubhaft machen, daß der Sozialismus, den sie erstreben, alle bisher errungenen Freiheiten aufrechterhält, ja sogar erst endgültig sichert: die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Nichtparteinahme des Staates in Fragen der Weltanschauung und des Glaubens, die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Arbeitsplatzes einschließlich des Rechts auf Auswanderung, das Streikrecht, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die Aufhebung jeglicher Art von Privilegien. Aber indem sie dieses Bild eines freiheitlichen Sozialismus entwerfen, nehmen sie genau die Positionen ein, die von den Ideologen des realen Sozialismus als linkssektiererische, kleinbürgerliche, utopistische und illusionäre Träumereien verhöhnt und darüber hinaus verdächtigt werden, bewußt oder unbewußt den Interessen des Klassenfeindes zu dienen. [ . . . ]

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