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Ein kommunistischer Philosoph kritisiert den „real existierenden Sozialismus” der DDR (1977)

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Im II. Teil wird die Struktur des real existierenden Sozialismus systematisch behandelt (nach der historischen Behandlung im I. Teil): seine bürokratisch-zentralistische Arbeitsorganisation, sein Charakter als geschichtete Gesellschaft, die ausgeprägte Ohnmacht der unmittelbaren Produzenten, die relative Schwäche seiner Produktivitätsantriebe, seine politisch-ideologische Organisation als quasi-theokratischer Staat. Das Wesen des real existierenden Sozialismus wird verstanden als Vergesellschaftung in der entfremdeten Form der universalen Verstaatlichung, die auf der noch nicht zu ihrem Umschlagspunkt vorgetriebenen alten Arbeitsteilung beruht.

Der Schlußteil wendet sich der Alternative zu, die im Schoße des real existierenden Sozialismus und in den industriell entwickelten Ländern überhaupt heranreift. Sie trägt den Charakter jener umfassenden Kulturrevolution, jener Umwälzung der ganzen bisherigen Arbeitsteilung, Lebensweise und Mentalität, die Marx und Engels vorausgesehen haben. Die allgemeine Emanzipation des Menschen wird immer dringlicher, aber die Bedingungen dafür müssen neu studiert, ihre Inhalte zeitgemäß definiert werden. Die soziale Dialektik ihrer nächsten Etappe wird durch das Ringen um den Abbau der Herrschaftsstrukturen in der Arbeit und damit im Staat gekennzeichnet sein, aber unter Umständen, da die Schichtung der Gesellschaft nach intellektueller Kompetenz noch dominieren wird. Daher setzt die Kulturrevolution eine wahrhaft kommunistische Partei, einen neuen Bund der Kommunisten voraus. Die Kommunisten müssen sich von der Staatsmaschine distanzieren und zuvor der Herrschaft des Apparats in ihrer eigenen Organisation ein Ende machen. Sie müssen neu die alte Losung des Manifests auf ihre Fahne schreiben, wonach »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« und sich mehr denn je bewußt sein, daß dieses Programm den Rahmen jeglicher bloß nationaler oder kontinentaler Fragestellungen sprengt. Die reale Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, wird zu einer Frage der praktischen Politik auf Tod und Leben. Die Welt verändert sich in einem ebenso ermutigenden wie bestürzenden Tempo – bestürzend deshalb, weil der Gesamtprozeß noch immer spontan auf Situationen zutreibt, die niemand gewollt hat. Der Friede kann nur gewonnen, der weitere Aufstieg des Menschen als Gattung und als Individuum nur gesichert werden, wenn die Unterschiede in den Entwicklungschancen fallen, in jedem Lande und in der ganzen Welt.



Quelle: Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln, 1977, S. 7-16.

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