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Deutsch-französische Freundschaft in der 70er Jahren (Rückblick, 1996)

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Mein mit Abstand engster französischer Freund bleibt natürlich Valéry Giscard d'Estaing. Wir haben von Anfang an nicht nur ökonomisch weitgehend übereingestimmt, sondern ebenso in unserer zweigleisigen Strategie gegenüber der Sowjetunion – einerseits den Willen und die Fähigkeit zur gemeinsamen Verteidigung zu demonstrieren, aber andererseits zugleich unsere Bereitschaft zu Verhandlung und Détente. Vor allem hatten wir von Anfang an – nämlich seit wir beide im Mai 1974 in die Chefpositionen in unseren Ländern eingerückt waren – übereingestimmt in der strategischen Vernunft der in überragenden Interessen unserer beiden Nationen begründeten Zusammenarbeit und der stetigen gegenseitigen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich wie ebenso der Einbindung beider Länder in die Europäische Gemeinschaft (heute: Europäische Union).

Für uns beide war die Summe der geschichtlichen Erfahrungen beider Nationen miteinander der ausschlaggebende Schlüssel zur Erkenntnis dieses vitalen Interesses unserer beiden Nationen. Aus französischer Sicht mußte damit gerechnet werden, daß Deutschland – damals noch geteilt – sich in einem nicht allzu langen Zeitraum zu der industriell, finanziell und monetär dominierenden Macht innerhalb Europas entwickeln würde. Der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hergebrachte Argwohn sehr vieler Franzosen gegen Deutschland mußte daraus zwangsläufig auf einen späteren deutschen Willen auch zur politischen Dominanz schließen. Schließlich waren von 1870 bis 1945 dreimal deutsche Truppen in Frankreich eingefallen und hatten große Teile des Landes besetzt; in den beiden Weltkriegen war Frankreich entscheidend auf das Zusammenwirken mit Amerika, England und Rußland/Sowjetunion angewiesen, um wenigstens bei Kriegsende auf der Seite der Sieger zu sein. Sollte in der Zukunft vermieden werden, daß diesen drei Akten der französisch-deutschen Tragödie ein vierter Akt hinzugefügt wurde, so verlangte das französische Interesse eine politische und ökonomische Einbindung Deutschlands. Dabei wußten die strategisch denkenden Franzosen natürlich, daß eine dauerhafte Einbindung Deutschlands nur dann zu erreichen ist, wenn sich auch Frankreich auf gleiche Weise einbindet. Von dieser Erkenntnis war Jean Monnet ausgegangen; Charles de Gaulle hatte sie, wenn auch zunächst sehr zögerlich, schließlich akzeptiert; für Giscard d'Estaing dagegen war sie selbstverständlich.

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Valéry und ich waren visionären oder umstürzend neuen Entwürfen sehr abgeneigt – und erst recht jeglichen phrasenhaften Erklärungen darüber. Statt dessen bevorzugten wir in aller Regel ein schrittweises sachliches Vorgehen. Auf diese Weise gelang es uns, an einer Reihe wichtiger Fortschritte mitzuwirken oder sie in Gang zu setzen – was die anderen Regierungen in Europa dazu veranlaßte, etwas mokant von der Achse Paris-Bonn zu sprechen.

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