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Europapolitik im Zentrum der deutschen Außenpolitik (24. Oktober 1966)

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Was sind nun zusammenfassend die Folgerungen aus dieser notgedrungen summarischen und etwas holzschnittartigen Analyse für die deutsche Politik, namentlich für die deutsche Europapolitik:

1. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist wirtschaftspolitisch eine unverzichtbare Errungenschaft, die mit allen Kräften fortentwickelt werden muß. Die Probleme der Schwestergemeinschaften sind Probleme ihrer Verträge und der Fusion.

2. Für die Wiedervereinigung ist die Integration der Sechs nicht ein Hindernis, sondern die Voraussetzung ohne Alternativen. Gleiches gilt für die anderen Ziele der deutschen Politik, Sicherheit, Friede und eine respektable und bündnisfähige Rolle Deutschlands in der Welt.

3. Die sogenannte politische Union ist im Augenblick nicht erreichbar, bleibt aber mittelfristig das Ziel der deutschen Europapolitik. Sie ist nicht die Bedingung, sondern sie ist die Folge der wirtschaftspolitischen Integration, die bereits die sozial- und wirtschaftspolitische Teilverwirklichung des politischen Europas ist.

4. Der politische Angelpunkt des langfristigen Erfolgs der Integration bleibt das deutsch-französische Verhältnis. Es muß infolgedessen trotz aller Widrigkeiten daran gearbeitet werden. Das Gespräch mit Paris darf niemals abreißen. London ist als Schiedsrichter zwischen Bonn und Paris ungeeignet, so wie Bonn als Schiedsrichter zwischen London und Paris ungeeignet ist. Damit will ich nichts sagen gegen gemeinsame deutsch-französische Bemühungen in der Frage des Beitritts Großbritanniens zu den Gemeinschaften.

5. Die Integration in der EWG ist unerläßliche Voraussetzung für eine konstruktive Ostpolitik, die ja eine der Bedingungen für eine realistische Wiedervereinigungspolitik ist. Ich verstehe darunter eine Ostpolitik, mit der langfristig und evolutionär Schritt für Schritt vielleicht auch die Ergebnisse von Jalta korrigiert werden können.

6. Die NATO bleibt für die Sicherheit Westeuropas und der Bundesrepublik unentbehrlich, zumal leider die französische Haltung gemeinsame Verteidigungsanstrengungen der Europäer für absehbare Zeit ausschließt.

7. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist nicht vollendet, es sind viele Probleme ungelöst, deren Schwierigkeiten durch deutsch-französische Spannungen eher verschärft werden. Alle diese Probleme sind aber lösbar, wenn die stetige Europapolitik der vergangenen Jahre fortgesetzt wird. Zu diesen Problemen gehört auch das der geographischen Erweiterung der Gemeinschaft.

Also, die Europapolitik ist heute vielleicht das tauglichste Mittel überhaupt, um allen legitimen deutschen nationalen Interessen zu dienen. Jedenfalls ist eine deutsche Europapolitik weder von der Wiedervereinigungspolitik noch von der Ostpolitik noch von der Sicherheitspolitik zu trennen. Und daher sollte eine konstruktive Europapolitik ein Schwerpunkt deutscher Politik überhaupt sein.



Quelle: Walter Hallstein, „Die politischen Bedingungen der deutschen Europapolitik von heute“ (24. Oktober 1966); abgedruckt in Thomas Oppermann unter Mitarbeit von Joachim Kohler, Hg., Walter Hallstein. Europäische Reden. Stuttgart, 1979, S. 641-49.

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