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Europapolitik im Zentrum der deutschen Außenpolitik (24. Oktober 1966)

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Ich komme zu den integrierten Gemeinschaften. Jedermann weiß heute, daß der Kohle- und Stahl-Gemeinschaftsvertrag sich kasuistisch auf materielle Regeln für bestimmte Tatbestände beschränkt. Er hat also weniger Verfassungscharakter. Die beiden neuen, auf die Römischen Verträge gegründeten Gemeinschaften haben einen stärkeren politischen Gehalt, weil sie in die Hände einmal eingesetzter Verfassungsorgane die weitere Entwicklung dieser Gemeinschaften legen. Das ist der entscheidende Fortschritt, den wir über den Vertrag von Paris hinaus gemacht haben. Auch Euratom ist aus verschiedenen Gründen, auf die ich nicht eingehen will, in der Krise.

Und nun die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft: Wirtschaftlich hat sie alle Erwartungen übertroffen. Wenn mir einer sagt, daß er 1958 vorausgesehen habe, wo wir in diesem Jahr stehen würden, so zweifle ich an der Qualität seines Gedächtnisses. Wirtschaftlich ist also die Gemeinschaft für alle Beteiligten ein einträgliches und unverzichtbares Geschäft geworden. Daß es unverzichtbar war, das ist erwiesen, seit der Teilbeendigung der Krise 1965 durch die Luxemburger Konferenz, denn die hat die übereinstimmende Einsicht aller Hauptstädte ans Licht gefördert, daß die Zerstörung der Gemeinschaft jedem Partner bedeutende und anderweitig nicht ersetzbare wirtschaftliche Einbußen eintragen würde. Immerhin, dieses Werk ist noch nicht vollendet. Ich werde über das, was noch zu tun ist, im zweiten Teil meiner Ausführungen noch sprechen und aufzuzeigen versuchen, daß eine besonders aktive deutsche Europapolitik, die von vornherein langfristig angelegt sein muß, um richtig zu sein, auch in Zukunft vonnöten ist. Das ist das Wirtschaftliche.

Politisch, das wird viel zu wenig beachtet, sind die Integrationsverträge, und das gilt jetzt für alle, die einzigen Nachkriegsverträge, in denen keinerlei ausdrückliche oder stillschweigende Diskriminierung Deutschlands zu finden ist. Das ist der große politische Wert, den diese Bildungen haben. Politisch ist ihre Verfassung, ich habe es schon erwähnt, die immerhin auch eine Gewähr für eine gleichberechtigte deutsche Teilnahme an diesem ja doch wahrscheinlich großen wirtschaftspolitischen Machtzentrum in Europa bedeutet. Es ist deshalb ganz logisch, daß die Angriffe der Gegner dieser Bildung, die hier auf dem Kontinent entstanden ist, sich in erster Linie gegen die Institutionen richten. Daß in der Luxemburger Konferenz diese Institutionen gerettet worden sind, macht ihre größte Bedeutung aus, und daneben sei erwähnt, daß das erste Mal nach dem Krieg, in einer großen politischen Frage sich mehrere Staaten mit Deutschland zu einem begrenzten Bündnis zusammengefunden haben. Politisch ist weiter an diesem Geschehen, daß durch die Verbindung mit den Nachbarn und durch den politischen Einfluß, den Deutschland in den Institutionen dieser Gemeinschaft hat, es politisches Gewicht auch außerhalb der Gemeinschaft gewinnt, nicht nur innerhalb. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß ein in eine blühende und machtvolle Gemeinschaft eingebundenes Deutschland auch in Washington, auch in London, auch in Moskau mehr Gewicht hat als ein isoliertes im Format eines europäischen Mittelstaates. Und schließlich, und das ist das Wichtigste vom deutschen Standpunkt aus, ist die wirtschaftliche Integration in Europa nicht ein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für jene Wiedervereinigung in Etappen, die sich als neuer Stil einer Wiedervereinigungspolitik abzeichnet. Nur innerhalb einer gesamteuropäischen Wiederannäherung der Europäer des Ostens und des Westens haben wir eine Chance, dieses große nationale Bedürfnis befriedigt zu sehen. Der Erfolg dieser Lösung hängt von dem Vertrauen ab, das auch die Ostvölker in uns setzen, und dieses Vertrauen wird, vielleicht etwas paradoxerweise, mitbestimmt durch das Vertrauen, das wir in der Gemeinschaft unseren Partnern einflößen durch das gute Beispiel, das wir im Umgang mit ihnen geben; denn durch dieses Vertrauen machen wir sie zu Interpreten und zu Advokaten unserer eigenen nationalen Sache. Das ist die ansehnliche Liste der politischen Wirkungen der sogenannten wirtschaftlichen Integration.

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