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Dolf Sternberger erklärt den Begriff des „Verfassungspatriotismus” (1979)

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Die Staatsgewalt ist nicht an einem Ort konzentriert, weder oben noch unten, weder links noch rechts, sie ist vielmehr weit herum verteilt, wir nehmen auf allerlei Art an ihr Teil, nicht nur leidend, auch tätig. Das Leben der Verfassung spielt sich nicht allein in den Parlamenten des Bundes, der Länder und der Gemeinden, nicht allein in den Regierungen und Verwaltungen ab; hinzu treten die Gerichte als »dritte Gewalt«, zumal diejenigen, welche die Gesetzgebung und die Verwaltung zu kontrollieren, zu korrigieren, die politische Machtübung in Grenzen zu halten sich erstaunlich fähig gezeigt haben. Die gesellschaftlichen Organisationen in ihrer Vielfalt existieren und wirken aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit, stellen Kräfte der lebenden Verfassung dar, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind; es ist an den politischen Instanzen, ihr Recht zu berücksichtigen, ihren Übermut zu dämpfen. Jede Tarifverhandlung stellt ein Stück lebender Verfassung, die Autonomie der Tarifpartner, die keiner behördlichen Interventionen bedarf, gleichwohl in sich selber ein Stück Staat dar. Nicht zu reden von dem vielstimmigen Simultan-Gespräch der sogenannten öffentlichen Meinung, die aus dem Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit erwächst. Auch Bürgerinitiativen, auch Demonstrationen sind Verfassungs-Lebensvorgänge, der Staat ist nicht bloß in der Polizeimannschaft gegenwärtig, die sie zu begleiten, ihre verfassungsrechtlich gebotene Friedlichkeit zu sichern bestimmt ist.

Es ist eine gute Verfassung, die all dergleichen und obendrein kräftige Führung möglich macht. Wir brauchen uns nicht zu scheuen, das Grundgesetz zu rühmen. Wir mögen im gegebenen Augenblick die Regierung tadeln, der Opposition Schwäche vorhalten, dem Parlament die Flut der Gesetze übernehmen, bei den Parteien insgesamt Geist und Phantasie vermissen, von der Bürokratie uns beschwert fühlen, die Gewerkschaften für allzu anspruchsvoll, die Reporter für zudringlich halten – die Verfassung ist von der Art, daß dies alles zu bessern erlaubt, zu bessern uns ermuntert und ermutigt. Eine gewisse maßvolle Unzufriedenheit ist dem Staat förderlich. Sie mindert nicht die Treue, die der Verfassung geschuldet wird. Gegen erklärte Feinde jedoch muß die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.



Quelle: Dolf Sternberger, „Verfassungspatriotismus”, Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main, 1990. Bd. 10, S. 13-16.

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