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Auszug aus dem Staats-Lexikon: „Constitution” (1845-1848)

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officiellen und von den wohldienerischen Kundmachungen und Huldigungen wegsieht und die – der Schere des Censors entrückten – mündlichen Aeußerungen der Denkenden im Volke, die Urtheile und Ansichten aller Classen, selbst der schlichtesten Bürger und Landleute, überhaupt den dem aufmerksamen Beobachter sich unverkennbar kund thuenden – wenn gleich nur im Stillen waltenden – öffentlichen Geist ins Auge faßt: alsdann wird man von der Ueberzeugung durchdrungen, daß – wenigstens für West-Europa – die dauernde Begründung des Absolutismus eine Unmöglichkeit sei, und daß, wenn beschränkte oder leidenschaftliche Staatsmänner ihn gleichwohl einzuführen gedächten, solches kaum zeitlich geschehen könnte, sodann aber unausbleiblich die Revolution zur Folge haben müßte. Nur die Schlechtigkeit der Menschen steht dem Absolutismus zur Seite; das constitutionelle System hat für sich ihren Verstand und ihre Tugend. Die letzten hoffentlich werden stärker sein als die erste; und die Regierungen selbst werden, nach gewonnener Einsicht von der Sachlage, lieber jenen (d. h. dem Verstand und der Tugend ihrer Völker) sich befreunden, als dem Beistand dieser (d. h. der Schlechtigkeit der Speichellecker) sich anvertrauen wollen. Sie haben dafür, noch außer den unmittelbaren, auf ihr einheimisches Verhältniß zum eigenen Volke sich beziehenden Gründen, ein das Verhältniß zum Auslande betreffendes, hohes, ja höchstes Interesse. Sollte der Absolutismus zur ungetheilten Herrschaft über Europa kommen, so wäre eben dadurch die Gewalt an die Stelle des Rechtes gesetzt, mithin auch das Staaten-Recht, d. h. die Selbstständigkeit der kleineren oder schwächeren Staaten gegenüber den größeren oder stärkeren aufgehoben. Auch würde alsdann jedem Unterthan (denn Bürger gäbe es dann keine mehr) vollkommen gleichgültig sein können, welchem Herrn er zu gehorchen und seine Steuern und Frohndienste zu leisten habe. Jedenfalls wäre alsdann die moralische Kraft, welche allein das Misverhältniß zwischen kleinen und großen Staaten ausgleichen kann und welche ohne Freiheitsgefühl gar nicht gedenkbar ist, getödtet, demnach jeder kleine Staat der Unterjochung Preis, sobald es den stärkern Nachbar nach seiner Einverleibung gelüstete oder sobald mehrere Stärkere sich unter einander über seine Unterjochung oder Theilung verständen. Gegen die doppelte Gefahr also, nehmlich einerseits gegen Revolution und Republik und andererseits gegen den Verlust der Selbstständigkeit gegenüber dem Ausland, giebt es – in erster Beziehung für alle, in letzter zumal für die kleinen Staaten – kein anderes Sicherungsmittel – als die aufrichtige Annahme des constitutionellen Systems.

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C. v. Rotteck.



Quelle: Carl von Rotteck und Carl Welcker, Hg., Das Staats-Lexikon: Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, zweite neubearbeitete und vermehrte Auflage. Altona: Verlag von Johann Friedrich Hammerich, 1845-48, Bd. 3, S. 522-25, 542-43.

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