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Der revisionistische Historiker Ernst Nolte provoziert den „Historikerstreit” (6. Juni 1986)

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Man braucht das verschollene Büchlein von Melgunow nicht gelesen zu haben, um solche Fragen zu stellen. Aber man scheut sich, sie aufzuwerfen, und auch ich habe mich lange Zeit gescheut, sie zu stellen. Sie gelten als antikommunistische Kampfthesen oder als Produkte des kalten Krieges. Sie passen auch nicht recht zur Fachwissenschaft, die immer engere Fragestellungen wählen muß. Aber sie beruhen auf schlichten Wahrheiten. Wahrheiten willentlich auszusparen, mag moralische Gründe haben, aber es verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft.

Die Bedenken wären nur dann berechtigt, wenn man bei diesen Tatbeständen und Fragen stehenbliebe und sie nicht ihrerseits in einen größeren Zusammenhang stellte, nämlich in den Zusammenhang jener qualitativen Brüche in der europäischen Geschichte, die mit der industriellen Revolution beginnen und jeweils eine erregte Suche nach den ‚Schuldigen’ oder doch nach den ‚Urhebern’ einer als verhängnisvoll betrachteten Entwicklung auslösten. Erst in diesem Rahmen würde ganz deutlich werden, daß sich trotz aller Vergleichbarkeit die biologischen Vernichtungsaktionen des Nationalsozialismus qualitativ von der sozialen Vernichtung unterschieden, die der Bolschewismus vornahm. Aber so wenig wie ein Mord, und gar ein Massenmord, durch einen anderen Mord ‚gerechtfertigt’ werden kann, so gründlich führt doch eine Einstellung in die Irre, die nur auf den einen Mord und den einen Massenmord hinblickt und den anderen nicht zur Kenntnis nehmen will, obwohl ein kausaler Nexus wahrscheinlich ist.

Wer sich diese Geschichte nicht als Mythologem, sondern in ihren wesentlichen Zusammenhängen vor Augen stellt, der wird zu einer zentralen Folgerung getrieben: Wenn sie in all ihrer Dunkelheit und in all ihren Schrecknissen, aber auch in der verwirrenden Neuartigkeit, die man den Handelnden zugute halten muß, einen Sinn für die Nachfahren gehabt hat, dann muß er im Freiwerden von der Tyrannei des kollektivistischen Denkens bestehen. Das sollte zugleich die entschiedene Hinwendung zu allen Regeln einer freiheitlichen Ordnung bedeuten, einer Ordnung, welche die Kritik zuläßt und ermutigt, soweit sie sich auf Handlungen, Denkweisen und Traditionen bezieht, also auch auf Regierungen und Organisationen aller Art, die aber die Kritik an Gegebenheiten mit dem Stigma des Unzulässigen versehen muß, von denen die Individuen sich nicht oder nur unter größten Anstrengungen lösen können, also die Kritik an ‚den’ Juden, ‚den’ Russen, ‚den’ Deutschen oder ‚den’ Kleinbürgern. Sofern die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gerade von diesem kollektivistischen Denken geprägt ist, sollte endlich ein Schlußstrich gezogen werden. Es ist nicht zu leugnen, daß dann Gedankenlosigkeit und Selbstzufriedenheit um sich greifen könnten. Aber das muß nicht so sein, und Wahrheit darf jedenfalls nicht von Nützlichkeit abhängig gemacht werden. Eine umfassendere Auseinandersetzung, die vor allem im Nachdenken über die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bestehen müßte, würde die Vergangenheit, von der im Thema die Rede ist, zwar ebenso zum ‚Vergehen’ bringen, wie es jeder Vergangenheit zukommt, aber sie würde sie sich gerade dadurch zu eigen machen.



Quelle: Ernst Nolte, „Vergangenheit, die nicht vergehen will: Eine Rede, die geschrieben, aber nicht mehr gehalten werden konnte“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 1986.

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