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Der Minister des Inneren über die innenpolitischen Reformen (Mai 1915)

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Die Wünsche, die in der Öffentlichkeit laut geworden sind, zerfallen in der Hauptsache in zwei Gruppen: Einmal handelt es sich um die Reform des preußischen Wahlrechts und andererseits um die Beseitigung aller sogenannten Ausnahmegesetze, d. h. derjenigen gesetzlichen Bestimmungen, welche sich ausdrücklich gegen bestimmte politische Parteien richten – also in erster Linie die zum Schutze des Deutschtums erlassenen Gesetze – oder gegen bestimmte Klassen der Bevölkerung oder bestimmte politische Parteien vorzugsweise wirksam werden. Die Frage des preußischen Wahlrechts und die sogenannte Polenpolitik der preußischen Regierung kann hier außer Betracht bleiben. Es handelt sich also in erster Linie um eine Abänderung des Vereinsgesetzes und um eine Erweiterung der auf die sogenannte Koalitionsfreiheit der Arbeiter bezüglichen Vorschriften. Was das Vereinsgesetz betrifft, so kommt in Frage eine Abänderung der §§ 1, 12 und 17. Soweit bezügliche Wünsche von der Sozialdemokratie ausgesprochen sind, kommt es im wesentlichen auf eine Umgestaltung dieser Paragraphen an, insoweit sie eine Beschränkung für die Betätigung der Gewerkschaften in sich schließen. Man verlangt eine Bestimmung, welche die Anwendung des Vereinsgesetzes auf die Gewerkschaften ausschließt. Eine solche Vorschrift würde zur Folge haben, daß die Gewerkschaften allen anderen Korporationen und wirtschaftspolitischen Vereinen gegenüber privilegiert würden. Dem Eintritt der Jugendlichen in die Gewerkschaften würde nichts mehr im Wege stehen; ebenso würden die Bestimmungen des Sprachenparagraphen auf gewerkschaftliche Versammlungen keine Anwendung finden. Wenn trotzdem von sozialdemokratischer Seite auch noch die Beseitigung des § 17 ausdrücklich verlangt wird, so beruft man sich darauf, daß dieser Paragraph eine Verschärfung des preußischen Vereinsgesetzes enthalte, das nur Schülern und Lehrlingen die Zugehörigkeit zu politischen Vereinen untersagt habe, und man behauptet ferner, daß die Handhabung des § 17, insbesondere in Preußen, dahin geführt habe, daß Jugendlichen die Zugehörigkeit zu jeder Art von Vereinen untersagt wurde, sofern diese Vereine nur irgendwie im Zusammenhange mit der sozialdemokratischen Partei stünden. Diesen Klagen wird eine gewisse Berechtigung nicht versagt werden können. Die preußische Verwaltungspraxis geht in der Tendenz dahin, Gewerkschaften, die irgendwelche Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei haben, unter das Vereinsgesetz zu stellen, eine Praxis, die offenbar der überwiegend wirtschaftlichen Bedeutung der Gewerkschaften nicht gerecht wird und auch im Widerspruch steht mit den regierungsseitig bei der Verabschiedung des Vereinsgesetzes abgegebenen Erklärungen, wonach Gewerkschaften, welche ihre Tätigkeit auf den Aufgabenkreis des § 152 der Gewerbeordnung beschränken, nicht unter das Vereinsgesetz fallen. Ferner kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß das Vereinsgesetz auch auf Vereine von Jugendlichen angewandt ist, die wohl von Sozialdemokraten geleitet, sich aber im übrigen auf die Betätigungsgebiete beschränken, welche unpolitisch sind, wie die Turnvereine und sogenannte Bildungsvereine. Es ist vorgekommen, daß Veranstaltungen für Jugendliche verboten sind, bei denen lediglich Deklamationen aus deutschen Klassikern und Darbietungen musikalischer Art und unverfänglichen Inhalts beabsichtigt waren. Alle diese Beschwerden würden beseitigt werden können, wenn tatsächlich die Praxis der Behörden, insbesondere in Preußen, eine liberalere würde, d. h. das Gesetz nicht extensiv, sondern restriktiv interpretiert würde. Da aber, selbst wenn eine solche Praxis eintreten sollte, eine Gewähr für ihre Dauer nicht gegeben werden kann, verlangt man gesetzliche Garantien.

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