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Die beiden deutschen Staaten in den Vereinten Nationen (19. September 1973)

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II. Rede des deutschen Bundesministers des Auswärtigen, Walter Scheel, anläßlich der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen vor der Vollversammlung am 19. September 1973.

Herr Präsident!

Vor 47 Jahren, fast auf den Tag genau, trat Deutschland in den Völkerbund ein. Acht Jahre waren seit dem Ersten Weltkrieg verstrichen. Der deutsche Außenminister, Gustav Stresemann, wurde von seinem französischen Kollegen, Aristide Briand, mit den Worten begrüßt: „Vorbei ist die Reihe schmerzvoller und blutiger Begegnungen, mit denen alle Seiten der Geschichte befleckt sind [ . . . ] kein Krieg mehr, keine blutigen und brutalen Lösungen unserer Zwistigkeiten. [ . . . ]" Stresemanns Antwort: „ [ . . . ] Wenn wir in die Höhe kommen wollen, können wir es nicht im Kampf gegeneinander, sondern nur im Zusammenwirken miteinander [ . . . ]."

Ein Dialog der Erwartungen und Hoffnungen, getragen von bestem Willen. Eine flüchtige Chance des Friedens. Schon wenige Jahre später war sie vertan.

Diesmal sind 28 Jahre seit Kriegsende verstrichen. Jetzt stehen zwei deutsche Außenminister vor den Delegierten. Hier zeigt sich das Schicksal meines Volkes: Ursprung und Opfer des Krieges, geteilt ohne eigenes Zutun, nun in zwei Staaten lebend, und ungewiß einer gemeinsamen Zukunft.

Verstehen Sie, warum wir zögerten, den Schritt in die Vereinten Nationen zu tun? Es ist schmerzlich, der politischen Realität der Teilung des eigenen Landes ins Auge zu sehen. Wir befürchteten, ein solcher Schritt könnte den Eindruck erwecken, als resignierten wir, als hätten wir die Hoffnung auf Einheit aufgegeben. Wir machten uns Sorge, die Schranken zwischen den Menschen in Deutschland könnten durch die Mitgliedschaft beider Teile noch höher werden.

Jetzt haben wir einen neuen Ausgangspunkt. Die beiden Staaten in Deutschland haben ihre Beziehungen zueinander durch den Grundvertrag vom 21. Dezember 1972 geregelt. Für Berlin kam das Viermächte-Abkommen unter Beteiligung der beiden Staaten in Deutschland am 3. September 1971 zustande. Dieses Abkommen hat nicht zuletzt den Weg dafür freigemacht, daß Berlin (West) an unserer Mitarbeit in den Vereinten Nationen teilhaben kann.

Unser Ziel bleibt klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird weiter auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk seine Einheit in freier Selbstbestimmung wiedererlangt.

[ . . . ]


Quelle: Bulletin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung), Nr. 114, 20. September 1973; abgedruckt in Europa-Archiv, Folge 24/1973, S. D 673-D 674.

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