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Markt statt Regulierung (16. Dezember 1988)

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Vor allem, weil die Politik schon lange kein stimmiges Konzept des Sozialen mehr kennt. Als sozial gilt, wenn die öffentliche Hand dem Bürger möglichst viel an Lebensrisiken abnimmt und an Geldern verteilt. Eine unbedarfte, irreführende Vorstellung, doch heftig geschürt von den unterschiedlichsten Gruppierungen, die in ganz merkwürdigen Allianzen für ihre Klientel immer noch mehr „herausholen" möchten und dazu mit Vorliebe den Bundeszuschuß bemühen, der in letzter Konsequenz von den Bedachten selbst aufzubringen ist. So oszilliert Sozialpolitik seit Jahrzehnten zwischen zum Teil grotesken Expansionen und meist vergeblichen Konsolidierungsversuchen, und das je nach Haushaltslage. Schon die kleinste Konjunkturverbesserung löst neue Begehrlichkeiten der „Sozialpolitiker" aus, selbst wenn damit ganz unkalkulierbare Belastungen auf System, Beitrags- und Steuerzahler zukommen.

Nur allmählich geht dem Bürger auf, daß ihm zur Bestreitung all dieser Leistungen mehr abgebucht wird als sein Geld: Entscheidungsfreiheit nämlich, Wahlmöglichkeiten und Gestaltungschancen. Das bringt ihn zwangsläufig zu jener „doppelten Sozialmoral", die hohe Abgaben – nicht anders als Arbeitslosigkeit und Umweltschäden – beklagt, aber die eigenen Besitzstände noch auszuweiten sucht. So plündert eine Gesellschaft sich selber aus – und ihre nachfolgende Generation gleich mit. Doch statt die Menschen in die Verantwortung für einen vernünftigen Umgang mit den ihrer Sicherung dienenden Systemen zu nehmen und ihnen entsprechende Freiräume zu geben, nimmt Norbert Blüm sie an die Kandarre. Seine eigentliche Aufgabe verfehlt er dabei: das Verhältnis zwischen Eigen- und Kollektivverantwortung, zwischen Markt und Staat wieder in ein praktikables Gleichgewicht zu bringen.

Gewiß, wir werden mit den sich jetzt herausschälenden Regelungen für eine Weile leben – wenn auch unzeitgemäß und unter ganz unnötigen Verlusten. Vielleicht sind im Augenblick „politisch" sogar nur Reparaturarbeiten und keine wirklichen Problemlösungen möglich. Zukunft wird auf diese Weise freilich nicht gewonnen. Die steht viel mehr im Zeichen stärkeren Willens zur Selbständigkeit und Kreativität – gerade auch im sozialen Sektor. Wenn das Problembewußtsein der jungen Menschen wächst, wenn ihnen das Maß ihrer Bevormundung und Belastung deutlich und zugleich erkennbar wird, daß ihr Bedürfnis nach Sicherheit mit einem Mehr an Eigenverantwortung viel besser befriedigt werden kann, werden sie auf Korrektur drängen. Des Sozialministers Feststellung von 1988: „Bezahlt werden muß doch immer, egal, wie Sie das organisieren" wird sich dann angesichts europäischer Freizügigkeit und konkurrierender Systeme als der vielleicht größte Trugschluß erweisen.

Dann spätestens kann einer Reform nicht mehr ausgewichen werden. Der Kanzler jedenfalls hat schon angedeutet, daß auch nach Verabschiedung der Gesetze weitergedacht werden muß. Er weiß: Auch der ruiniert, der am Menschen und seiner Zeit vorbei reformiert.



Quelle: Gert Dahlmanns, „Blüm setzt nicht auf Solidarität“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Dezember 1988.

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