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Die Mühen des Regierungsalltags (19. September 1972)

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Frage: Herr Bundeskanzler, sind es nicht im Grunde genommen zwei Dinge, die irgendwo miteinander kollidiert haben? Zum einen ist Ihrer Regierung ein hoher Erwartungsdruck zugedacht worden, und den würde ich durchaus als ein hohes Kompliment ansehen, denn wenn man von jemandem viel erwartet, heißt es, daß man ihm eigentlich auch sehr viel zutraut. Und zum anderen: Ist nicht dieser hohe Erwartungsgrad immer wieder kollidiert mit vielleicht einer ungenügenden psychologischen Vorbereitung der Öffentlichkeit auf das, was dann tatsächlich fällig geworden ist, sowohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik?

Antwort: Ja, das ist so. Die Formen, sich genügend verständlich zu machen, zu erklären, nicht nur das, was man tut, von einem Monat zum anderen, sondern das, was man sich auch für einen längeren Zeitraum vorgenommen hat, was möglich ist und nicht möglich ist – dies alles ist nicht genügend erklärt worden. Das hängt nun aber zusammen, glaube ich, mit der politischen Struktur in unserem Land. Jemand hat dieser Tage einmal davon gesprochen, daß wir 20 Jahre lang oder fast [so lange] in dieser Bundesrepublik glaubten oder daß man glaubte, einen Consensus leicht rechts von der Mitte gefunden zu haben. Und der, der dies entwickelte, sagte, nun sei man wohl dabei, einen Consensus leicht links von der Mitte zu finden. Beides ist dann gar nicht so schrecklich weit von der Mitte entfernt. Aber es schafft notwendigerweise starke Spannungen, oder ein solcher Übergang von der einen Seite der Mitte zur anderen schafft starke Abwehr, auch stark gefühlsmäßige Abwehr derer, die auf den alten Consensus festgelegt waren, und es schafft übertriebene, häufig auch nicht realistische Erwartungen derer, die nun zum erstenmal sozusagen sich voll am Consensus beteiligt fühlen.

Frage: Herr Bundeskanzler, hat es in den drei Jahren und konzentriert in den letzten Monaten Augenblicke der Resignation oder gar der Ermüdung, der Unlust gegeben, weil vielleicht zuviel auf Sie eingestürmt ist, das sie, subjektiv oder objektiv, nicht verdient hatten?

Antwort: Ich glaube nicht in den letzten Monaten, sonst hat es im Laufe der Zeit schon immer mal wieder Situationen gegeben, auf die ich mit erheblicher Unlust reagiert habe.

Frage: Was waren denn das für welche?

Antwort: Das waren dann überwiegend nicht Situationen, die mit dem innenpolitischen Gegner zu tun hatten, sondern mit Unzulänglichkeiten im eigenen Laden.

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Quelle: „Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers, Brandt, für ‚Die Zeit’“ (19. September 1972), Archiv der sozialen Demokratie, WBA, A 9, 26; abgedruckt in Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 7: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966-1974. Bearbeitet von Wolther von Kieseritzky. Bonn, 2001, S. 354f.

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