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Kein normaler Regierungswechsel – 1969 (Rückblick, 2001)

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Wir fühlten uns immer noch mit der bangen Frage zur Demokratie hin unterwegs: Werden wir es diesmal, anders als im Weimarer Demokratieversuch aus Berlin, schaffen? Der Wechsel von Kiesinger zu Brandt nach zwanzigjähriger Regierung durch die Union (!) – der Wechsel von „rechts" nach „links", von „christlich" zu „sozialistisch" und wie die Aufkleber alle hießen, die drinnen wie draußen (Schablonen zwar) angeklebt wurden –, dieser Wechsel wurde von sehr vielen als fundamental empfunden.

Es war eine Zeit des Umbruchs, des neuen Anfangs. Wie anders würde alles werden? wurde gefragt; mit Bedacht gefragt. Besonders, als der neue Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung betonte: Jetzt wolle er mehr Demokratie wagen, jetzt fange die Demokratie erst richtig an.

Im Bewußtsein vieler überlagerte das Erlebnis dieses Wechsels die nüchterne und normale Feststellung, daß – parlamentarisch und pragmatisch betrachtet – der Außenminister zum Bundeskanzler avancierte; daß die Partner-Partei tonangebend wurde. Aber: Was war aus der Sicht der Geschichte an Deutschland schon politisch „normal"? Die Gefühlslage damals war nicht so „normal". Das war der Wechsel, herbeigeführt auch von den 68ern! Kommt da die (befürchtete) „andere" Republik? Das war nun die Frage.

Meine Weggefährten von damals können nicht mehr bestätigen, was sie erlebten: Einen Kollegen, Kameraden, Freund, den es umtrieb, diesen Wechsel als möglichst „normal" erscheinen und verarbeiten zu lassen, ohne Siegesgeheul der Gewinner wie ohne Verkrampfung der Verlierer: Parlamentarischer Wechsel als Ausweis der gewonnenen und gesicherten Demokratie!

Meine maßvollen öffentlichen Einlassungen zu diesem Wechsel wurden beachtet. Kein Wunder: Ich war ja längst durch Walter Scheel auf diese Entwicklung vorbereitet. Bei allem Wechsel: Der parlamentarische Führer der Union war derselbe wie vor dieser „Wende". Ich suchte, auch als Person, Mitte und Stabilität zu beweisen. Jedenfalls hatte die Wahlkampf-Parole der Union „Auf den Kanzler kommt es an!" nicht den erhofften und erwünschten Erfolg. Nach 20 Jahren an der Regierung fanden wir uns – unvorbereitet und ungewollt – in der Opposition wieder. Viele schmollend.



Quelle: Rainer Barzel, Ein gewagtes Leben. Erinnerungen. Stuttgart und Leipzig, 2001, S. 265-66 und 269-70.

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